Haben wir uns im 1. Teil über die Geschichte und Entwicklung des Kammerspielfilms unterhalten, dreht es sich nun um die Zukunft des unterschätzten Genres. Fernsehen, Streaming und Serien werden unter die Lupe genommen. Doch zuerst widmen wir uns einem besonderen Film zu, der am Ende des letzten Teils angekündigt wurde.
Ein Essay von Daniel Zemicael
Ein cineastischer Orgasmus
Hier eine persönliche Geschichte vorweg. Ich war 15 Jahre alt, es waren Sommerferien und dennoch durfte ich nicht spätnachts Fernsehen schauen (meine Mutter ist eine orthodoxe Christin, was
heißen soll, was nachts im Fernsehen kommt, ist Teufelszeug). Dennoch hatte ich mitbekommen, dass ein Film um kurz nach 1 Uhr nachts in der ARD laufen würde, dessen Trailer mich auf Anhieb
interessierte. Ich schlich mich also zum Wohnzimmer, während meine hellhörige Mutter bereits schlief. Obwohl es so spät war, blieb ich den gesamten Film über wach, ja, ich bewegte mich nicht mal.
Dieses Werk hatte mich so dermaßen vereinnahmt wie kein anderer Film, davor und danach! Es war tatsächlich ein Erweckungserlebnis, eine Epiphanie, es war ganz und gar ein cineastischer Orgasmus!
Zuerst sehen wir das nächtliche Dallas. Eine Rundfunksendung ist in der Tonspur zu hören. In großen Lettern ist der Titel des Films zu lesen: TALK
RADIO! Begleitet mit dem großartigen Song „Bad to the Bone“ von George Thorogood and the Destroyers. Der Radiomoderator Barry Champlain nimmt in seiner Sendung „Night Talk“
wirklich jeden Anrufer entgegen, lässt diese ihre Meinungen kundtun, die aus Verklemmtheiten, Perversionen, Rassismus, Antisemitismus und weiteren dummen Gedankengängen bestehen. Kurzum, es sind
die Themen, die das amerikanische Volk umhertreibt.
Barry ist allerdings kein Mensch, der gerne Verständnis und Mitgefühl diesen Anrufern gegenüber zeigt (er ist kein Jürgen Domian). Gerade bei Nazis, die auch sehr gerne bei ihm Anrufen und ihren
Hass über Juden, Schwarze, Feministen und Homosexuelle mitteilen, teilt der furchtlose Barry ordentlich aus. Auch wenn er immer auf der richtigen Seite steht und die Dummheit der amerikanischen
Gesellschaft aufzeigt, entwickelt er doch eine Art von Unantastbarkeit. Das wird bei ihm auch nicht besser, als er erfährt, dass ein Konzern die Sendung kaufen möchte und landesweit ausstrahlen
will. Im Gegenteil. Als ein Rechtsradikaler bei ihm anruft und mit einer Bombe droht, die er per Post zum Sender geschickt hatte, schwenkt die Kamera auf das Pult neben Barry, wo ein großes
packet liegt. Barry setzt sich hin und öffnet das Packet. Diese Szene zeigt deutlich, dass der Radiomoderator nicht nur furchtlos, sondern auch suizidale Tendenzen besitzt. Ein Mann der sich an
der Gesellschaft abarbeitet und bei dem Versuch daran komplett scheitert.
Es hat einen bestimmten Grund, weshalb ich bei dem Wort „Bombe“ die Handlungswiedergabe abgebrochen habe: Als ich die Filmvorschau von „Talk Radio“ im Fernsehen sah, dachte ich, nämlich es
handele sich um einen Psychothriller mit ein paar Actioneinlagen. Pustekuchen! „Talk Radio“ unterläuft die Erwartungen des Zuschauers. Hinzu kommt das Eric Bogosian, der eigentlich für das
Theater lebt und arbeitet die Off-Broadway-Vorlage für den Film lieferte (er spielt auch die Rolle des Barry Champlain so atemberaubend cool und faszinierend, dass einem die Worte fehlen).
Bogosian gibt also nicht nur die Hauptrolle, sondern schrieb zusammen mit Oliver Stone auch das Drehbuch. Der Theaterhintergrund des Films ist deutlich zu spüren, aber nicht in Form eines
statischen oder verkopften Looks des Streifens, sondern in seiner freien Art der Dramaturgie: Eric Bogosian, der mit seiner Einstellung zu seinen Theaterstücken an Bertold Brecht erinnert, ist es
höchstwahrscheinlich zu verdanken, dass aus „Talk Radio“, kein „typischer amerikanischer Film“ wurde.
Untypisch ist er zwar, aber auch gleichzeitig ganz nah am Puls der Zeit. So nah, dass er auf die heutige Gegenwart übertragbar ist. Ein paar Kleinigkeiten hätte man heutzutage sicher geändert,
eventuell die Musik, die Frisuren, aber vor allem auch das Setting des Radiostudios an sich. Ein Podcast wäre heute wahrscheinlicher, was im Grunde dasselbe ist, nur Moderner. Das sind allerdings
bloß Petitessen, da die Themen die im Film verhandelt werden zeitlos sind.
Um es treffender zu formulieren: „Talk Radio“ nimmt den Hate Speech im Internet, der inzwischen en vogue, aber vor allen Dingen alltäglich geworden zu sein scheint, auf eine Nostradamus-artige Weise vorweg. Youtube-Kommentare, Facebook-Posts, Twitter-Shitstorms oder irgendwelche Podcaster die Bullshit erzählen und Querdenkern und Co. ein Podium bieten, aber auch Journalisten, die mit Hohn und Spott von einer Masse als „Lügenpresse“ beschimpft werden, das alles nimmt dieser Film vorweg. Am Ende des großartigen Prologs von „Talk Radio“ verabschiedet sich Barry von seinen Zuhörern bevor das Wochenende beginnt mit folgenden Worten: „Über Stock und Stein bricht sich jeder das Bein, aber nur Worte können einen endgültig fertigmachen.“ Heutzutage wo ein kleines böses Wort schon ein Shitstorm verursachen kann, würde so ein Film wie dieser noch besser passen als die sprichwörtliche Faust im Auge.
Der Regisseur des Films Oliver Stone kämpfte als Soldat im Frontkrieg in Vietnam, erlebte sehr viel Grauen und schilderte diese Ereignisse in seinem Oscar-gekrönten Film „Platoon“ (1986). Heute
ist er nicht mehr allzugefragt als Filmemacher, dreht jedoch eine ganze Reihe an Dokumentarfilmen, die mal mehr, mal weniger Beachtung bekommen. Sieht man jedoch, was er nach „An jedem verdammten
Sonntag“ (1999) für missratene Spielfilme drehte („Alexander“, 2004, „World Trade Center“, 2006, „Savages“, 2011), sollte man gar nicht allzu betrübt sein, über diesen Verlust. Nichtsdestotrotz
muss man doch anerkennen, dass Stone in den 80ern und 90ern bildgewaltige Epen schuf, die so stark waren wie ein Wirbelsturm. 1988 drehte er mit „Talk Radio“ seinen vergleichsweise kleinsten
Film, und doch ist es sein Bester. Auch wenn er damals ein Flop war (ein typisches Kammerspielfilm-Schicksal, wie wir bereits zu Genüge gelernt haben), ist er doch absolut wert neuentdeckt zu
werden, weil er, wie man so schön sagt, (extrem) gut gealtert ist.
Tot oder nicht totzukriegen?
Man kann dem Streamingzeitalter, in denen wir uns befinden verfluchen und Tatsachen aufzählen, dass Netflix und Co. das Kino unterjochen wollen, dass Filmgeschichte in diesen Plattformen kaum bis
gar nicht auffindbar ist und das die meisten der hier aufgezählten Kammerspielfilme gar nicht dort abrufbar sind. Ja, es sieht wirklich düster aus für uns Cinephile! Oder? Natürlich könnten wir
uns nun in Lethargie über die schlechte Entwicklung des Kinos stürzen und in Nostalgie flüchten, wo die siebte Kunst ein Lebensgefühl war und etliche junge Leute begeisterte und beeinflusste. Die
gute Nachricht ist, dass Kino wird nicht aussterben (zumindest nicht so schnell). Aber die kleinen Produktionen haben es weiterhin schwer sich zu behaupten, schwerer als damals. Wenn nun ein
Streamingdienst einen Independet-Film in sein Programm aufnimmt, ist das mit seinen weltweiten Zugriffen erstmal mehr Segen als Fluch.
Das Serienfieber, dass uns alle seit Jahren eingenommen hat, zeigt deutlich, dass das Kino was damals so innovativ und so Stilprägend war, nun in serieller Form weitergedacht wird. Mir persönlich
ist aufgefallen, dass viele Serien in einer Episode mindestens eine Art Kammerspiel-Folge besitzen. Zu nennen wäre da „Master of None“, zweite Staffel, achte Episode, „Breaking Bad“, dritte
Staffel, zehnte Episode, „Dear White People“, zweite Staffel, achte Episode und last but definitely not least die deutsche Serie „Warten auf’n Bus“, die im Grunde genommen ein einziges
Kammerspiel in Serienform darstellt. Außer dem letzt genannten sind die anderen eine sogenannte Bottle-Episode, d.h., das aus Kostengründen weniger Personal und weniger Geld für eine Folge
ausgegeben werden muss. Es hat aber auch einen künstlerischen Anreiz, wenn durch das minimalistische Setting und den abgespeckten Cast, mehr Konzentration auf die Charaktere, Dialoge und deren
Innenwelt Wert gelegt wird.
Mittlerweile gibt es auch Serien im linearen Fernsehen, wie der französische Arte-Hit „In Therapie“ (2020) der ein hervorragendes Remake darstellt. Nachdem die israelische Original-Version
„Betipul“ (2005-2008) startete, gab es danach 19 verschiedene Länder, die das Konzept auf ihr jeweiliges Land anglichen. So spielt in „In Treatment“ (2007-2010), der amerikanischen Fassung, Krieg
und Rassismus eine Rolle. Wie ein Damoklesschwert schwebt in der bereits erwähnten französischen Version der Terroranschlag in Bataclan (2015) über die Charaktere der Serie. An Relevanz mangelt
es also nicht, wenn es um das meist gescholtene Genre geht, auch nicht an Geschichten, komplexe und vielschichtige Dialoge und wie wir gesehen haben, ist die Auswertungsart (also Kino oder
Fernsehen) auch nicht das Problem. Lebt also der Kammerspielfilm auch in der Zukunft weiter?
Manchmal hat es den Eindruck, dass dieses Filmgenre auszusterben droht, wie es viele Musikfans schon seit Jahrzehnten dem Jazz attestierten. Doch dann wächst er unerwartet wie Pilze aus dem
Boden. Wie man sieht, ist der Kammerspielfilm nicht totzukriegen. Wieso auch? Er gehört mit Abstand zu den besten Genres der Filmgeschichte.
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Don Biggs (Freitag, 30 Juni 2023 21:37)
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