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Betreutes Schauen - über Reaction-Videos 1/2

 

Seit einigen Jahren geistert ein Unterhaltungsgenre durch das Internet: Reaction-Videos! Eines der dümmsten Erfindungen seit es das Internet gibt. Eine Zeitverschwendung, die dennoch große Klickzahlen erzeugt. Aber warum?

 

Von Daniel Zemicael 


Kennen Sie noch die Rockband Rage against the Machine (abgekürzt auch RATM genannt)? Obwohl es die Band immer noch gibt, war ihre eigentliche Hoch-Zeit die 90er Jahre. Sie erzählten in ihren Songs hochpolitische Dinge wie z.B. über den institutionellen Rassismus in Amerika. Tom Morello sorgte mit seinen Gitarrenriffs für einen ungewöhnlichen Klangteppich, während Zack de la Rocha mit seinen Raptexten, die er stets mit Furor vortrug, das Publikum in einen Rausch versetzen konnte. Energie, Wut und eine kathartische Wirkung gingen aus ihren Auftritten hervor.


Die Youtuber von Cartierfamily schienen davon beeindruckt gewesen zu sein. Doch ein großer Irrtum hing über das Video wie damals der Fauxpas von dem ehemaligen Big-Brother-Bewohner Zlatko, als dieser tatsächlich annahm, dass Shakespeare ein Filmregisseur sei. Aber spulen wir mal zurück und sehen uns das Debakel von vorne an: Das Video der Cartierfamily besteht aus vier jungen Männern, die irgendwo in einem amerikanischen Jugendzimmer sitzen und sich die Live-Version von „Killing in the Name“ der besagten Band anschauen, um darauf zu reagieren. Die Stimmung der vier schwarzen Typen scheint ausgelassen zu sein, es wird herumgealbert und einer verausgabt sich sogar in Luftgitarre spielen.

 

Schließlich läuft das Video. Wie schon erwähnt, ging es RATM um brisante und leider auch bis heute aktuelle Problemthemen. Im Song „Killing in the Name“ rappt De la Rocha ganz offensichtlich über Ku-Klux-Klan-Mitglieder und dass diese nun ihre Kutten auszogen, um sie mit Polizeiuniformen zu tauschen. Schwarze werden von diesen Cops nun getötet und die Gesellschaft schaut weg bzw. tut einfach, das, was ihnen vom rassistischen System gesagt wird. Den Status quo beibehalten ist die logische Folge darauf. Doch der rebellische Song endet mit De la Rochas schreiender Anklage: „Fuck you, i won’t do what you tell me!“


Wie ist denn nun die Reaktion und Beurteilung über Song und Auftritt im Cartierfamily-Video ausgefallen? Sagen wir's mal so: Das Interpretationstalent der Typen scheint nicht wirklich ausgereift zu sein. Obwohl der Inhalt nicht viel-, sondern eindeutig ist. Aber einer der Dumpfbacken meint, und das ohne Scherz, dass es sich in dem Song um Rebellion gegen strenge Eltern handelt! Diese zutiefst dumme Position wird von den anderen einfach angenommen. Und schwuppdiwupp, ist das Video fertig. Was haben wir also aus dem Murks, das sage und schreibe 10 Minuten unseres Lebens gestohlen hat, gelernt? Nichts! Rein gar nichts! Willkommen in der Welt der Reaction-Videos!

Stop! Reden! Weiter! Stop! Reden! Weiter!

 

Klar, man sollte nicht jede Modeerscheinung problematisieren, gerade in Deutschland ist das Mäkeln an allem und jedem eine feste Tradition. Deswegen sollte man sich erstmal mit den Themen eingehend beschäftigen, bevor der Zeigefinger zum Einsatz kommt. Scheint Kritik aber gerechtfertigt und besonders auf das Internet und Social Media abzuzielen, heißt es womöglich sehr bald schon: Ok Boomer!


Deswegen - so meine Vermutung - hüllt sich das Feuilleton in Schweigen. Vielleicht auch aus Arroganz und Desinteresse oder weil die hiesigen Kulturjournalisten die Jugend unterschätzt hat, die sich ihre „Kulturnachrichten“ quasi niemals aus Printmedien holen würden (die meisten nicht mal aus dem linearen Fernsehen), sondern aus dem Internet. Und dort herrschen eben andere Sitten als im Traditionsfernsehen oder in der Zeitung. Videos anzuschauen jeglicher Couleur und darauf reagieren ist tatsächlich fester Bestandteil in der Netzkultur. Filme und Musik worauf wir uns in diesem Text beschränken möchten, sind im React-Universum besonders beliebt. Und das nicht umsonst, denn derartige Inhalte erreichen nicht selten Millionen Aufrufe.

Machen wir uns doch mal auf die Suche nach einigen Reacter (es gibt nämlich etliche von ihnen mit der Tendenz nach oben) und schauen uns deren „Arbeit“ genauer an. Zuvor sollte erklärt werden, wie so ein Reaction-Video produziert wird. Es erfordert (zumindest auf den ersten Blick) wenig Aufwand: Eine oder mehrere Personen in einem Raum, ein PC oder Fernseher und schließlich das dazugehörige Video, worauf reagiert wird. Am Ende wird der Murks natürlich geschnitten und bearbeitet, was bei manchen kaum Arbeit bedeutet, da sie es nur aus einer statischen Aufnahme filmen und es dabei weitestgehend so belassen, andere wiederum bestücken es mit Jump-Cuts und anderen Spielereien. Es hat gar den Eindruck, dass der oder die Reacter sich bei I-Movie so richtig austoben wollten und wirklich alles, was das Zeug her gab, auf das Video knallen.

Ziehen wir doch genau für diesen Fall ein Beispiel eines Youtubers heran, bei dem einem schon vom Zusehen schwindelig wird: Stevie Knight und sein Kanal. Knights Videos sind dermaßen mit Jump-Cuts und Formatwechseln gesäumt, was sie schwer erträglich macht. Während Knight das Musikvideo von Afroman „Will you Help me Repair My door?“ anschaut, ist das Bild so aufgeteilt, dass er selbst im rechten Drittel zu sehen ist, während der Clip links läuft, also ein Split-Screen. Doch wenige Sekunden später ist Knight in Vollbild zu sehen, und zwar mit einem digitalen Zoom, um dann wieder in Sekundenschnelle in einem kleinen quadratischen Facecamausschnitt zu landen, wo man das Musikvideo diesmal als Vollbild sieht. Dieses Verfahren wird innerhalb des elf-minütigen Videos die ganze Zeit wiederholt und nur dadurch unterbrochen, wenn Knight den Clip pausiert, dann ist mal relativ Ruhe im Bild. Aber genau das bringt uns zum nächsten großen Ärgernis dieses Genres der sinnlosen Unterhaltung: Das Stop-Drücken!

Denn in Reactions ist das Pausieren des zu reagierenden Videos eine gängige Tradition. Das geht so weit, dass man nach wenigen Sekunden schon eine Meinung über das Musikvideo abgibt. Brad & Lex ziehen das konsequent in jedem ihrer Videos durch. Das Paar (das auch ein Baby hat, was sie gerne in die Kamera halten) schauen sich zirka eine Minute eines Songs an (manchmal mit, manchmal ohne Musikclip) und stoppen dann das Video. Nach einer kleinen „Einordnung“ und das „reflektieren“, machen sie weiter mit ihrer „Arbeit“. Diese ständige und enervierende auf die Pause-Taste drücken, kann natürlich auch für Missverständnisse sorgen: So verglich der weibliche Part von Brad & Lex Rage Against the Machine (da haben wir sie wieder) mit der Boygroup New Kids on the Block. Nach so einem Vergleich muss man erst mal raus, um frische Luft zu schnappen.

Es sollte eigentlich schon klar sein, dass, wenn man ein Werk beurteilen soll, es auch bis zum Ende ansehen oder anhören muss. Stattdessen folgt ein regelrechter Stop! Reden! Weiter! Stop! Reden! Weiter! - Stakkato. Jetzt könnte man den Zeigefinger wieder erheben und oberlehrerhaft ermahnen, dass diese Art des Konsumierens auf die Zuschauer abfärben könnte. Doch das wäre lachhaft. Ist doch das Stopp-Drücken oder auf eine bestimmte Stelle springen, die man nochmal sehen möchte, eine gängige Art des heutigen Rezipierens.


Da könnte sich aber ein Kinobesuch wie eine unerträgliche Mutprobe anfühlen, der man sich nicht freiwillig aussetzen möchte. Da geht das natürlich nicht mehr mit der gängigen Art des Rezipierens. Hier scheint alles vorbeizurauschen, ohne Möglichkeit auf die Stopptaste drücken zu können, hinzu kommt, dass man auch noch ruhig sein muss, und sein Handy nicht mal benutzen darf. Ich sehe schon wie die Youtube- und Netflix-Geschädigten im dunklen Saal sitzen, sich die schweißnassen Hände ständig abwischen, die Zehen krümmen und sich in ihren Sitzen qualvoll hin und her wälzen und nur darauf warten dass sie fluchtartig das Gebäude wieder verlassen können.

Finanziell zahlen sich die nervigen Zeitverschwender für die jeweiligen Youtuber und Twitch-Streamer (wo auch schamlos reactet wird) ordentlich aus. Die Fine Brothers sind zwei Amerikaner, die so erfolgreich mit ihren Videos wurden (20 Millionen Abonnenten in Youtube), bis es ihnen zu Kopf stieg, denn sie hatten tatsächlich die Idee gehabt, das Wort „react“ als Marke, dass nur ihnen gehören sollte, schützen zu lassen. Es gelang ihnen auch, nur kam dies bei der Fanbase nicht so gut an, sodass sie von ihrem Anspruch wieder zurücktraten.


Auch wenn Youtube ein Hort des Erfolgs für diese Art der Unterhaltung zu sein scheint, wandern immer mehr Reacter zu Twitch ab. Dort kann man dann live auf irgendwas reagieren, die Länge des eigenen Streams nach Belieben variieren und - dies ist höchstwahrscheinlich noch relevanter für diese Reaction-Pappnasen - man bekommt in Echtzeit mit, wie viel man finanziell von den Fans als Spende bekommt.

 

Livestreaming, also der letzte Schrei für Betreiber von Reaction-Videos. Wer ein bisschen im Bilde ist, weiß auch Bescheid, warum es immer vermehrt Twitch-Videos auf Youtube gibt. Klar, weil dort noch das Geld der Werbung, die vor jedem Video geschaltet wird, von den Kanalinhabern zusätzlich (zu den Spenden, die sie aus Twitch gezogen haben) eingeheimst wird. Einträgliches Business zu schlechtem Content.


Logisch, dass die Reacter bei so einem Erfolg und Zuspruch ihr Angebot erweitern möchten. Also gibt es nicht nur Musik oder Clips, auf die reagiert werden, es geht auch eine Nummer größer: Film-Reactions! Wie das genau aussieht und wer ihre Protagonisten sind, erfährt Ihr im letzten Teil.

Weiter gehts hier!

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