Nun geht es weiter mit Haile und seiner Klinik-Odyssee. Ich habe mir gedacht, dass ich gleich zwei Kapitel auf einmal hochladen sollte. 1. allein schon wegen den vergleichsweise kurzen Kapiteln. 2.weil dies angenehmer zu Lesen ist. Und schließlich 3. sind Cliffhanger meist sadistischer Natur, weswegen ich meine Leser ungern zu stark auf die Folter spannen möchte. Und nun Vorhang auf!
Part 1 zum Nachlesen.
Von Daniel Zemicael
2. Kapitel
Der Aufenthaltsraum auf meiner Station war klein, aber dafür hatte er einen Balkon mit einer genialen Aussicht auf die Stadt. Ich saß neben dem Fenster, weiter vorne saß ein Mädel ungefähr in
meinem Alter, trank Tee oder so und las in irgendeiner Zeitschrift. Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer meiner Mutter. Ich machte mich auf einiges gefasst, denn meine Mutter ist eine
eiserne Lady. Man musste Einstecken können und brauchte eben starke Nerven.
Ich hielt den Hörer dicht ans Ohr, damit das Mädel nichts mitbekam. Ich hasste es, unter Leuten zu telefonieren.
Freizeichen. Wieder Freizeichen. Und wieder Freizeichen. Meine Nervosität stieg beträchtlich. Aber dann nahm sie ab und sagte: »Haile?«
»Hallo Adej«, begann ich, was »Mutter« auf eritreisch bedeutet.
»Was gibt’s?«, fragte sie auf eritreisch.
»Bin im Krankenhaus.«, sagte ich auf Deutsch.
»Wieder Psychiatrie?«
»Nein, ich bin in der HNO Klinik. Uniklinik.«
»Warum denn das?«
»Ich hab ein Abszess. Das heißt, meine Oberlippe ist extrem angeschwollen und wahrscheinlich muss ich eine Zeit lang hier im Krankenhaus bleiben.«
»Und Weihnachten?!«, sagte sie wütend, »Wirst du Weihnachten hier sein?«
»Vergiss doch einfach mal Weihnachten!«
»WAS?«
»Nichts. Ich meine ich weiß es nicht.«
KLICK. Schon hatte sie aufgelegt.
Ich dachte, was geht denn hier ab. Da erleidet man Höllenschmerzen, sieht aus wie eine Ente, und die eigene Mutter legt einfach auf, weil man Weihnachten nicht kommen kann. Zugegeben, ich war
seit fünf Jahren nicht mehr an Weihnachten bei meiner Mutter gewesen. Fünf Jahre ist schon eine lange Zeitspanne. Aber mit gutem Grund. Mein Bruder Johnny, der ein Start-up-Unternehmen gegründet
hat und irgendeine Software verkauft, von der ich bis heut nicht weiß, um was es sich genau handelt, ist mit mir seit Jahren zerstritten. Oder ich mit ihm? Egal. Auf jeden Fall hält er mich für
einen Loser, der nichts auf die Beine bekommt und weder Studium noch Ausbildung abgeschlossen hat. Das sind zwar Fakten, aber dass mein Bruder mich dafür abwertet, ist eine andere Sache. Er hat
fünf Kinder, eine Firma und eine riesige Wohnung. Ich wohnte in einer WG, kriege Geld vom Amt und habe eine seltsame Angewohnheit: Graphomanie.
Man kennt doch die Leute, die ständig Schreiben, landläufig bekannt als Schriftsteller, aber Graphomanie, zumindest bei mir, ist schon krankhaftes Schreiben. Eine Sucht, die mich zwingt, alles
aufzuschreiben, was mir in den Kopf kommt. Dabei ist es mir nicht wichtig, was ich schreibe, sondern dass ich schreibe. Ständig juckt es mich in den Fingern. Es fing schon in meiner Kindheit an,
und schon damals hielt Johnny mich wahrscheinlich für einen hoffnungslosen Fall. Jedenfalls sind wir zerstritten und deswegen meide ich Weihnachten bei meiner Mutter, da er und seine Sippschaft
zu dieser Zeit immer da sind.
Mein Handy klingelte wieder. Sofort ging ich ran.
»Adej!«
»Haile«, begann sie, »Ich habe nachgedacht.«
»Worüber?«
»Dein Wunsch ist es doch, diese Reise zu machen, oder?«
Sie meinte damit eine Weltreise, von der ich schon seit Jahren träume. Nur das ich sie im kommenden Jahr wirklich machen wollte. Das Problem war nur die Finanzierung, und da kam meine Mutter ins
Spiel.
»Ja, klar« erwiderte ich.
»Dann komm Weihnachten nach Hause«, sagte sie.
»Adej, ich weiß nicht wie lang ich bleiben muss. Der Abszess ist ziemlich krass.«
»Was haben die Ärzte gesagt?«
»Drei Tage mindestens. Aber das kann ich irgendwie nicht glauben, wenn ich mich im Spiegel so sehe.«
»Drei Tage! Das reicht doch. Weihnachten ist in sieben Tagen.«, sie tat so, als ob sie nur den einen Satz verstanden hätte. »Wenn du Weihnachten nicht kommst, kannst du das Geld, das du für die
Reise brauchst, vergessen.«
»Aber...«, sagte ich, aber sie hatte schon wieder aufgelegt.
Ein Pfleger kam in den Aufenthaltsraum und schaute auf eine Akte:
»Herr Bereket?«
»Ja?«
»Kommen Sie bitte mit. Ich zeige Ihnen ihr Zimmer.«
Ich stand auf und ließ die Tee - oder Kaffeetrinkerin allein zurück.
Im Zimmer war ich noch der Einzige, was mir sehr recht war. Ich wollte nicht, dass man mich so sah. Mein Wunsch war, dass ich für den Rest meines Aufenthalts alleine bliebe, aber ich wusste, dass
dies nicht so kommen würde.
Ich rief meinen Kumpel Enrico an, den ich seit meinem 14. Lebensjahr kannte. Er wohnte weiter weg, und weil mich Telefonieren meistens nervte, schrieben wir mehr per WhatsApp. Aber meine
Situation war nicht gerade alltäglich, also erzählte ich ihm, in was für eine missliche Lage ich steckte.
»Fuck, Alter.«, sagte er nach meinen Ausführungen. »Ein Abszess ist schon so ´ne Scheiß-Sache. Ich hab auch sowas.«
»Verarscht du mich?«, fragte ich, »Oder ist das jetzt ein großer Zufall?«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, aber auf meinem Rücken sind so ein paar Wölbungen, die wegmüssen. Hab auch schon ein Termin. Ich muss da nur auf dem Bauch liegen, und die Ärztin macht
dann alles.«
»Kannst ja dann, während du auf dem Bauch liegst Netflix auf dem Handy schauen.«
»Könnte ich, aber ich bekomm da Kopfhörer und hör Musik.«
»Ja, ja, sie geben dir `nen Kopfhörer, drehen die Musik auf, während die Ärztin schon mit der Kettensäge in der Hand hinter dir steht und höhnisch lacht.«
»Ja und die Mülleimer in der Praxis sind voll mit Leichenteilen.«
»Wie geht’s eigentlich Leyla?«, wollte ich von ihm wissen.
»Wir reden über Kettensägen und Leichenteile und du fragst plötzlich, wie es deiner Ex geht? Interessante Überleitung«, sagte Enrico amüsiert.
»Ihr wohnt praktisch Haus an Haus. Du musst sie doch mal gesehen haben.« Ich wurde ungeduldig. Ich hatte sie das letzte Mal vor sechs Monaten gesehen.
»Und wenn schon, Haile. Sie will dich nicht mehr sehen, akzeptier das endlich. Übrigens grüßt sie mich seit Ewigkeiten nicht mehr, weil sie ja weiß, dass wir befreundet sind.«
»Oh Mann!«, sagte ich enttäuscht.
»Vergiss sie endlich. Ist ´n halbes Jahr schon her.«
»Ja gut«, bestätigte ich, aber ich wusste genau, dass ich Leyla nie vergessen würde, »ich geh mal schlafen.«, sagte ich. Wir verabschiedeten uns und ich legte mich hin. Trotz Schmerzen schlief
ich schnell ein.
3. Kapitel
Ich wachte auf und sah wie fünf Leute in Weiß mich beobachten. Nein, es war kein Albtraum. Es war die Visite. Ich deckte meinen Mund mit der Decke zu. Es ging wieder los mit den Schmerzen, und
ich war fix und fertig. Duschen wäre eine schöne Sache, aber das würde mir wahrscheinlich noch eine Zeitlang verwehrt bleiben.
»Wie geht’s Ihnen heute?«, fragte mich einer der Ärzte.
»Ich bin total kaputt«, gab ich zu.
»Zeigen Sie mal Ihre Oberlippe.«
Ich zog die Decke weg und der Arzt riss seine Augen auf. Es sah wahrscheinlich schlimmer aus als gestern aus.
»Oh, das ist sehr angeschwollen.«, sagte er und ich dachte, ach ne, was du nicht sagst!
»Kommen Sie nachher in mein Büro. Die Pfleger versorgen sie gleich mit einer Infusion.«
»Okay«, sagte ich mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Die fünf Leute verschwanden wieder, aber einer blieb. Es war allerdings kein Arzt, es war mein neuer Zimmernachbar. Er musste über Nacht eingeliefert worden sein.
»Guten Morgen.«, sagte Herr Unbekannt und erschrak kurz, als er meinen Schnabel sah. Er war so Mitte 50 und hatte eine Halbglatze, wirkte mit seinem gebügelten Hemd, seinen Lederschuhen und dem
Parfüm, das edel und teuer roch, so gepflegt, dass ich mich schämte, zwei Tage nicht geduscht zu haben.
»Morgen«, sagte ich und vergrub mich wieder unter der Decke.
»Wir müssen Sie heute noch operieren«, verkündete der Arzt später in seinem Büro zu mir.
»Schon wieder?«
»Leider ja.«
»Wann denn heute?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich schätze so in den nächsten sechs Stunden. Warten Sie einfach in Ihrem Zimmer, alles klar?«
»Nicht wirklich«, sagte ich, »wenn Sie mich heute operieren, wie lang dauert es, bis ich entlassen werde?«
»An eine Entlassung ist gerade gar nicht zu denken.«, sagte er. Für mich klang das so, als würde ich im Knast sitzen und meine Hoffnung auf Freiheit würde gerade zunichtegemacht.
»Mit dieser Hiobsbotschaft muss ich erst mal klarkommen.« Ich war bitterenttäuscht.
»Ich weiß, Sie wollen an Weihnachten bei Ihrer Familie sein. Das wollen alle Patienten. Wir tun, was wir können.«
Was er nicht verstand, war, dass ich an Weihnachten nicht draußen sein wollte, sondern musste.
»Na gut.«, sagte ich, stand auf, nahm die Stange, auf der die Infusion befestigt war, und ging langsam aus dem Zimmer.
Ich lag wieder im Bett, als Herr Unbekannt die Tür reinkam, pfeifend den Schrank öffnete und seine Sachen packte.
»Today I’m going home.«, sagte er.
»Ich hab zwar die paar Brocken Englisch verstanden, aber sie können ruhig deutsch mit mir reden.«, sagte ich und versuchte zu lächeln, aber das sah man wegen der überdimensionalen Oberlippe
sowieso nicht.
»Oh ok, hier geboren?«, fragte er.
»Ja, genau. Born and raised.« Mein Englisch klang für meine Begriffe gar nicht so schlecht, obwohl ich es nie richtig gelernt hatte.
»Weswegen bist du hier?«, fragte er interessiert.
»Ich habe einen Abszess.«
»O je, du Armer, hoffentlich wirst du bald gesund.«
Es klopfte an der Tür, und ein Pfleger kam mit einem Tablett in den Händen herein.
»Frühstück!«, sagte er eine Spur zu euphorisch.
»Sind Sie nicht eine halbe Stunde zu spät?«, sagte Herr Unbekannt in einem plötzlich nicht mehr so freundlichen Tonfall.
»Entschuldigung.«, sagte der Pfleger und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch, auf die Seite von Herrn Unbekannt. »Herr Bereket, Ihres kommt auch gleich.«
Er ging raus und ließ die Tür offen. Während ich mit knurrenden Magen dasaß, machte sich mein Zimmernachbar über das Frühstück her. Für ihn gab es frische Brötchen, Butter, Truthahn-Mortadella,
Käse und eine kleine Portion Marmelade. Ich wurde immer hungriger.
Als der Pfleger zurückkam, hatte er kein Tablett in den Händen, sondern einen Zettel.
»Mir wurde gerade mitgeteilt, dass Sie nichts zu essen kriegen dürfen, da Sie später eine Vollnarkose bekommen.«
»Okay«, sagte ich, war aber enttäuscht. Enttäuscht und hungrig.
»Durchhalten«, sagte er und streckte beide Fäuste vor. Er ging aus dem Zimmer und schloss die Tür.
»Durchhalten«, wiederholte Herr Unbekannt, schüttelte den Kopf und fügte noch ein »Pfff«, hinzu, während er sein Brötchen mit Butter bestrich. »Diese Pappnasen haben doch keine Ahnung, worüber
sie reden. Ich wette, dass die sich die Mäuler über dich zerreißen, während du die Vollnarkose bekommst. Die feixen dann über dich und erzählen dann Witze. Das sind solche Schweine.«
»Meinen Sie?«, wollte ich wissen.
»Bei meiner Frau fand man nach einer Operation ein Operationstuch im Magen.«
»Wie kam das dann da hin?«
»Ganz einfach: Aus Bösartigkeit und Schlamperei.«
»Glauben Sie wirklich aus Bösartigkeit? Ich meine, wenn das rauskommt, haben die Ärzte nichts zu lachen.«
»Denen passiert doch eh nichts. Da kann man nichts machen. Die sind alle gleichgeschaltet mit der Pharmaindustrie. Und die wollen nicht, dass wir gesund werden aber auch nicht, dass wir sterben,
sondern irgendwas in der Mitte, damit wir brav Medikamente konsumieren und somit den Bonzen die Taschen vollmachen. Aber du glaubst jetzt sicher, was alle glauben: dass ich ein
Verschwörungstheoretiker bin und lauter solchen Mist.«
»Nee, im Grunde haben Sie ja recht.«
»Holla, die Waldfee«, sagte er. »komm mal an den Tisch.«
Ich stand vom Bett auf, rollte mit der Stange, auf der die Infusion befestigt war, zum Tisch und setzte mich. Meine Seite des Tisches zeigte Richtung Tür. Hinter mir war ein großes Fenster, durch
das Licht auf Herrn Unbekannt und sein Essen fiel. Während er sich die Brötchen reinzog, saß ich da und versuchte, mein Hungergefühl zu unterdrücken.
Er legte das Brötchen zur Seite, strich sich über die Hände und kramte sein Handy aus der Hosentasche hervor.
»Ich zeig dir mal was.«
Ich hoffte, dass es nicht das Tuch sein würde, das sich in dem Magen seiner Frau befunden hatte. Aber dann zeigte er mir Bilder von Strand, Meer und Sonne.
»Wo ist das?«, fragte ich.
»Bahamas.«
»Wirklich beeindruckend.«
»Find ich auch. Meine Frau und ich ziehen da hin, und zwar ab Anfang nächsten Jahres.«
»Dauert ja nicht mehr lange.«
»Du sagst es. Ich bin echt froh, hier abzuhauen und auf einer Insel mein Leben neu zu starten. Verstehst du? Einfach auf Reset drücken und neu beginnen.«
»Das versteh ich nur allzu gut.«
»Und wie gesagt, heute werde ich hier entlassen, dann noch die letzten Vorbereitungen, und dann heißt es Adios.«
»Sie Glücklicher.«
»Tja, der Countdown läuft, in zwei Stunden bin ich hier weg.«
»Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.«
»Danke. Wie heißt du eigentlich?«
»Haile«, sagte ich.
»Helle?«, fragte er.
»Nein...«, sagte ich aber anstatt das gleiche nervige Ritual wie gestern durchzuziehen, machte ich es kurz und schlug vor: »Nennen Sie mich einfach Donald Duck.«
Weiter gehts hier!
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Johnny (Freitag, 17 November 2023 12:39)
Don Biggs du bist Klasse �
Weiter so !
Don Biggs (Freitag, 17 November 2023 13:32)
Dankeschön! :)