Vorgeplänkel sind einfach unnötig und können einem den Letzten Nerv rauben. Erst Letztens war ich in einem der vielen Discounter und musste tatsächlich mitansehen, wie die Kundin vor mir
mit dem Kassierer endlos lange laberte, als wären sie alleine im Laden. Während ich mir so die Beine in den Bauch stand, dachte ich "das kann doch nicht wahr sein, Mann!" Es gibt weitere
Beispiele, wie das unnötigste ever: Vorworte. Ich denke mir manchmal, was hat den Autor oder Autorin dazu getrieben, mit so vielen Worten quasi nichts zu erzählen? Es raubt einem einfach nur die
Zeit! Statt in medias res zu beginnen, muss man den armen Leuten auch noch die Zeit stehlen. Ich würde sowas niemals tun! Und genau deswegen starte ich gleich und ohne Umschweife mit meinem
Krankenhaus-Roman. Viel Spaß dabei!
Von Daniel Zemicael
4. Kapitel
Es war 18:14, als zwei Ärzte die Tür reinkamen und mich aus meiner Lethargie rissen, denn ich war seit Stunden alleine im Zimmer. Herr Unbekannt war weg und hatte wahrscheinlich nur die Bahamas
im Sinn, während ich hier mein Dasein fristen musste.
Ungefähr eine Stunde vorher war der Anästhesist bei mir gewesen und ging mit mir ein paar Fragen wegen der Vollnarkose durch.
»Hallo, Herr Bereket, mein Name ist Schlosser, ich bin der Oberarzt.«
»Hallo«, sagte ich und gab ihm die Hand. »Ich hab schon sehensüchtig auf Sie gewartet.«
»Ja«, sagte er lachend, »Wir haben zwei Nachrichten für Sie. Die erste ist: Wir können sofort loslegen mit der OP -«
»Gut«, unterbrach ich ihn und stand vom Bett auf.
»Allerdings lautet die zweite Nachricht, dass der Anästhesist nicht dabei sein wird. Das heißt, Sie werden lokal betäubt.«
»Wo ist denn der Anästhesist? Hat er schon Feierabend.«
»Nein, aber es gibt noch viele andere Patienten und noch andere OPs.«
»Das heißt, ich hätte den Tag über doch was Essen können?«
»Ja. Das ist wirklich blöd gelaufen.«
»Und danach darf ich auch nichts essen?«
Er nickte.
»Also ich weiß nicht, kann man’s dann nicht einfach verschieben?«
»Ich gebe Ihnen einen Tipp: Wenn es losgeht, machen Sie einfach die Augen zu. Kein Witz. Und nach ein paar Minuten haben Sie’s schon überstanden.«
»Na gut«, sagte ich wenig überzeugt und stand endgültig auf, um den beiden zu folgen.
Es handelte sich um den gleichen Operationssaal wie am Vortag. Und die gleiche Pflegerin, deren Hand ich wahrscheinlich demoliert hatte, war auch da. Es war wie in täglich grüßt das Murmeltier,
ein Film, in dem ein Nachrichtensprecher dank einer Zeitschleife ständig den gleichen Tag erlebt. Er hatte mir eigentlich immer gut gefallen, doch nun kam mir die Handlung vor wie ein Witz, denn
es gab darin keinen Mann wie mich, der einen Abszess hatte und ständig operiert werden musste. Klar, sonst wäre es auch nicht als Weihnachtsfilm eingestuft worden, sondern als
Torture-Horror-Streifen.
»Ah, Sie!«, sagte die Pflegerin lächelnd.
»Ja, ich.«, sagte ich und zitterte.
Der Vorteil war, dass kein anderer Patient hier war. Das konnte aber auch als Nachteil betrachtet werden. Ich dachte an Herrn Unbekannt und seine Horror-Stories.
Schließlich wurde ich gebeten, mich hinzulegen. Ich bekam die lokale Betäubung. Doch bevor es losging, sagte die Pflegerin: »Nehmen Sie meine Hand.«, was ich mir nicht zweimal sagen ließ.
Und dann der Eingriff. Augen zu und gut ist, dachte ich mir. Von wegen! Es war wieder kaum zu ertragen. Ich summte laut, wedelte mit den Beinen. Das mochte den Ärzten eventuell ungewöhnlich
vorkommen, doch das war mir wirklich egal. Hauptsache, es half. Und diesmal versuchte ich, Nachsicht mit der Hand der Pflegerin zu haben.
»So, Herr Bereket«, sagte der Oberarzt, »Sie haben es hinter sich.«
»Wirklich?«, fragte ich und ich merkte, wie meine Zunge ebenfalls taub war.
»Oh, ja. Da floß reichlich Eiter aus der Innenseite Ihrer Oberlippe.« Eine interessante Information, dachte ich, die er sich hätte sparen können.
Die Pflegerin gab mir einen Becher, in den ich das Blut spucken konnte, was ich auch tat, wobei sich ein Spuckefaden bildete. Es war äußerst unappetitlich, und ich versuchte schnell, mit der Hand
über meinen Mund zu wischen, aber ein Teil der Spucke landete auf meinen Kapuzenpullover - mein einziges wärmendes Kleidungsstück, das ich dabei hatte. Man sah dort deutlich einen runden
Blutfleck.
»Sie können wieder in Ihr Zimmer gehen«, sagte der Arzt.
Ich wollte ihn noch fragen, wie lange ich bleiben musste, aber meine Zunge war taub, meine Nerven lagen blank, und ich war erschöpft. Also stand ich auf, ging den langen Gang entlang und fuhr mit
dem Lift in meine Station.
Am dritten Tag, dachte ich: Jetzt reichts mir, ich lauf gleich gegen die Wand. Denn ich hatte, seit ich im Krankenhaus war, keine Zigarette mehr geraucht.
Das Problem war, dass ich rausmusste, nicht mal auf dem Balkon konnte man quarzen, der Raucherpavillon war draußen, und zwar ziemlich weit weg. Rauchern geht es schon seit Jahren immer
schlechter, was Bequemlichkeit und Komfort anbelangt. Also verließ ich das Zimmer und verdeckte mit meiner Hand die Oberlippe mit dem Abszess.
Endlich im Raucherpavillon angekommen, zündete ich mir die erste Kippe an. Ich war auch erleichtert, dass sonst keiner in diesem kleinen Häuschen war.
»Endlich ´ne Kippe für die Lippe«, sagte ich leise zu mir selbst.
Seit meinem 15. Lebensjahr rauche ich schon und muss ehrlich sagen, dass ich nie bereut habe, damit angefangen zu haben. Man sagt ja, dass man raucht, um etwas zu kompensieren. Und zu
kompensieren hab ich echt genug.
Das Problem war nur die verdammte Oberlippe. Ich musste die Kippe an der Seite in den Mund stecken und dann dran ziehen, aber das funktionierte nur bedingt.
Ich schämte mich und sah mich um, inständig hoffend, dass mich nur ja keiner beobachtete. Da sah ich vor einem anderen Klinikgebäude einen jungen Mann, der etwas jünger wirkte als ich. Er hatte
eine Glatze und saß auf einem Rollator neben der Eingangstür. Die Leute gingen zügig an ihm vorbei. Er beobachtete jeden Einzelnen. Irgendwann entdeckte er mich und fokussierte sich auf mich, so
lange, dass ich fast annahm, er wolle mich hypnotisieren. Einerseits war mir das unheimlich, andererseits machte es mir so ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Zigarette in den Aschenbecher
warf und wieder reinging.
Glücklicherweise war der Flur menschenleer. Trotzdem beeilte ich mich, wieder in mein Zimmer zu gelangen, das sich ganz weit hinten neben einem großen Fenster mit einer verschlossenen Tür befand,
die zu den Notfalltreppen führte.
Mitten auf dem Flur hörte ich plötzlich aus dem anderen Flügel eine Frauenstimme schreien und drehte mich für Millisekunden um. Das reichte schon, um mit einem Pfleger zu kollidieren, der aus dem
Pflegebüro geschossen kam.
»Immer langsam!«, sagte er. Die Stimme kam mir bekannt vor. Ich drehte mich um und sah, wer das war.
»Haile?«, sagte er.
»Sebastian?«, sagte ich.
»Das glaub ich jetzt nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Wie lang ist es schon her?«
»Ich schätze mal, seit dem Ende unserer Schulzeit.«
»Ja, wird’s wohl sein. Wenn das mal kein Schicksal ist. Sag mal, wie geht’s dir?«
»Nicht so gut. Offensichtlich.«
»Ja, ich seh’s, bist du Instagram-Model geworden?«
»Was? Nein! Wieso das?«
»Na, als Duckface könntest du den Influencern Konkurrenz machen.« Er lachte. Sein Blick wanderte zu meinem Kapuzenpullover mit dem Blutfleck.
Meine Hände wurden schweißnass, ich zitterte wieder. Ich hoffte, dass er mir nicht die Hand geben würde, sonst würde er meinen Anflug von Schwäche vielleicht erahnen. Aber Gott sei Dank, sagte
eine Kollegin zu ihm: »Sebastian, Zimmer 203!«
»Sorry«, sagte er, »Da schreit wieder eine ältere Patientin. Keine Sorge - das passiert des Öfteren.«
Kein Wunder bei so einem Pfleger, dachte ich.
»Man sieht sich später, Haile. Du rennst hier ja nicht weg, so wie du gerade aussiehst.«, er ging zügig weiter.
Im Weitergehen dachte ich: So eine Scheiße, da bin ich hier mit einer Riesenoberlippe und fleckigem Pullover, und wen sehe ich in dieser Klinik? Meinen ehemaligen Schulmobber.
Das war mir zu viel. Ich ging in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu, ohne mich umzusehen. Fünf Leute, die ich noch nie gesehen hatte, starrten mich entgeistert an. Ein etwa
fünfzigjähriger Mann lag im frisch gemachten Bett. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte ich schließlich »Upps.« Und wieder begann ich zu schwitzen. Dafür, dass Winter war, schwitzte ich ziemlich
oft.
2. Teil - Das Leben kann wie Dysphagie Kost sein
5. Kapitel
Als ich wach wurde, polterte der Neue im Zimmer herum, um sich einzurichten. Er war alleine diesmal. Sein Bett stand direkt neben dem Schrank. Ich verdeckte meinen Mund fast schon automatisch unter der Decke. Daraufhin sagte er:
»Keine Sorge, sowas hatte ich auch mal. Aber damals als ich noch jung war.«
»Was denn?« Fragte ich.
»Angeschwollene Lippe.«
»Und wie heißt das nochmal?«, wollte ich ihn testen. Denn ich glaubte ihn nicht.
»Abszess.«
»Genau.«, sagte ich ein wenig zu überrascht.
»Ich heiße Yilmaz.«
»Haile«, sagte ich. Er kam zu mir und wir gaben uns die Hand.
Das Frühstück kam, und wir setzten uns einander gegenüber. Ich schaute auf dem Zettel, der auf dem Tablett lag: »Dysphagie Kost«. Was auch immer das bedeutete. Als ich den Deckel öffnete, sah ich
nur eine Suppe.
»Wasser mit Pfeffer«, sagte er lächelnd. Ich lachte, was wegen des Abszesses ziemlich wehtat.
Wir unterhielten uns eine ganze Weile lang. Er sagte, dass er ein Kurde sei und drei Kinder hätte. Seine jüngste Tochter war 12 Jahre alt.
»Meine Tochter«, sagte er, »will unbedingt nach München. Dort wohnt ihre Tante. Sie wollte immer schon nach München.«
»Ihr fahrt also dorthin?«
»Ja, wenn ich rauskomme, sofort, nur ich weiß nicht, wann das sein wird.«
»Geht mir auch so. Ich muss auch an Weihnachten bei meiner Familie sein. Aber ich seh aus wie eine aufgeblasene Puppe.«
Er lachte.
»Du bist lustig.«, sagte er immer noch lachend, »In meinem Job gibt es nicht viel zu lachen.«
»Was machst du denn?«
»Ich habe drei Jobs: Taxifahrer, Kellner und hauptberuflich bin ich Maler.«
»Maler und Lackierer?«, fragte ich nach.
»Nein, Maler wie Van Gogh.«
»Echt«, sagte ich anerkennend.
»Ja, die anderen Jobs habe ich nur, um mich und meine Familie über Wasser zu halten. Ich habe sogar einmal meine Bilder ausgestellt. Kam gut an.«
»Voll cool.«
»Was arbeitest du?«, fragte er, und ich wurde plötzlich mundfaul und druckste rum.
»Zurzeit nichts Besonderes ...«
»Nichts besonders?«
»Ja, dies und das und so, du weißt schon.«
»Nee, ich weiß nicht, aber hört sich besonders an, dein nichts Besonderes.«
»Ich will«, begann ich, um die peinliche Situation zu retten, »eine Weltreise machen. Quer durch die Welt, das Essen, die Menschen und die Sprache des jeweiligen Landes kennenlernen.«
»Willst du das wirklich machen?« Er wirkte überrascht.
»Ja, auf jeden Fall.«
»Wow«, er klatschte einmal in die Hände. »Das ist eine wirklich gute Idee. Hoffentlich klappt es.«
»Es muss klappen.«
»Wow. Du bist ein interessanter junger Mann.«
Eine der wenigen Male, dass mich mal jemand anerkennend behandelte.
»It’s Zeit fürs Mittagessen!«, plärrte Sebastian um 12 Uhr mittags und kam mit zwei übereinandergestapelten Tabletts ins Zimmer.
Er stellte sie wie gewohnt auf unseren Tisch. Dann drehte er sich zu mir um, simulierte mit der Hand eine Pistole und blinzelte mit einem Auge.
Ich dachte nur, geh mir bloß aus den Augen. Meine Schulzeit war geprägt gewesen von seinen Quälereien und sogenannten Späßen. Oder Gerüchten, die Sebastian über mich verbreitet hatte. Zum
Beispiel erzählte er einem Mädchen, in das ich damals verliebt war, dass ich angeblich irgendwas über sie erzählt hätte. Die Pointe war, dass die beiden schließlich zusammenkamen. Ja, entweder
war die Schulzeit der Himmel auf Erden oder ein unendlicher Weg mit lauter Dornen, und wenn man ihn endlich hinter sich hat, ist man mit Wunden übersät, die so tief sind, dass man sich nicht von
ihnen erholen kann.
Als Sebastian wieder weg war, standen Yilmaz und ich aus unseren Betten auf, um uns wieder an den Tisch zu setzen.
Wieder gab es nur Pfeffer und Wasser, wie Yilmaz es ausdrücken würde. Ich konnte das Zeug allmählich nicht mehr sehen. Ich sehnte mich nach einem saftigen Steak mit schöner Soße und Pommes. Aber
auch wenn es vor mir gelegen hätte, hätte ich keinen Appetit gehabt; die Gedanken an die Schulzeit waren einfach zu schmerzhaft. Wenn ich mir überlege, was aus Sebastian und was aus mir geworden
war, drehte sich mir der Magen um, er rotierte regelrecht.
»Das ist Deutschland«, unterbrach Yilmaz meine Gedanken. »Wir werden sogar im Krankenhaus bedient wie die Könige. Das gibt’s in fast keinem anderen Land, dass Menschen so gut behandelt werden. In
anderen Ländern musst du für alles bezahlen. Komm mit einer Schusswunde oder einem Herzinfarkt ins Krankenhaus, ohne Geld lassen Sie dich krepieren. Und hier?« Er machte mit den Fingern einen
Kreis.
»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich, »ich bin nichts anderes gewöhnt.«
»Ja, weil du ja deutscher bist. Ich komme aus dem kurdischen Teil der Türkei. Das ist hart. Wir müssen hier glücklich sein.«
Ich rührte mit dem Löffel in der Suppe und sagte gedankenverloren: »Hoffentlich hat er nicht reingespuckt.«
»Wer hat wo reingespuckt?«, fragte Yilmaz verwirrt.
»Ach, ich kenne den Pfleger schon seit der Schule. Wir waren in einer Klasse. Er war sehr gut im ... Mobben. Ich freu mich nicht gerade, ihn hier Wiederzusehen.«
»Eine Scheißsituation, gerade für dich. Weiß er das?«
»Nein, das ist es ja gerade: Er tut so als wären wir best Friends. Es ist seltsam, für ihn war die Schulzeit eine riesige Party, aber für mich war sie das Gegenteil. Am liebsten würde ich ihm
eine reinhauen.«
»Ich denke«, sagte Yilmaz, »du musst mit ihm reden. Reden ist die beste Lösung. Ohne Kommunikation läuft nichts, sonst endet es damit, dass du ihm wirklich eine reinhaust. Dann ist das Problem
aber immer noch da.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte ich, aber wirklich Lust, mit Sebastian zu reden, hatte ich nicht. Andererseits hatte ich nicht vor, den Ärger, den ich mir jahrelang in die Seele gestopft hatte, mit
ins Grab zu nehmen. Aber wieder andererseits, was sollte so ein Gespräch schon bringen? Na ja, ich musste es wohl selbst herausfinden.
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