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"Der Kaffee im Krankenhaus ist ohne Koffein" Part 6

Wir befinden uns im 6. Part des Krankenhaus-Epos. Eins vorweg: Es wird dramatisch! Mehr soll nicht gesagt werden, denn Vorfreude ist die größte Freude.

Von Daniel Zemicael

Part 1, Part 2, Part 3, Part 4, Part 5 zum Nachlesen.


10. Kapitel

»Mann Yilmaz, mein alter Freund, ich hab grad was erlebt, dass glaubst du nicht!« Ich kam ins Zimmer rein und bemerkte erst, als ich vollständig drin war, dass Yilmaz Bett frisch gemacht wurde und dass alle seine Sachen weg waren. OH SHIT, HABE ICH IHN VERPASST? Habe ich tatsächlich solange mit Natascha geredet, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte, was Yilmaz vorhin zu mir sagte? Und zwar, dass er heute oder Morgen entlassen wird. Ich sah ein Zettel auf meinem Bett liegen. Ich ging hin und las ihn:

Lieber Haile,
es tut mir leid, dass wir uns nicht ordentlich verabschieden konnten. Es ging nach dem Gespräch mit dem Doktor alles ziemlich schnell. Ich telefonierte mit meiner Frau und sie kam hier angefahren und half mir mit dem packen. Wie dem auch sei, ich wünsche, dass du all deine Ziele erreichen wirst und damit Erfüllung findest. Ich hab dir angemerkt, dass du viel Potenzial hast und vor Energie strotzt. Benutze es aber und verschwende es nicht. Du machst schon deinen Weg.
Mit herzlichen Grüßen
Yilmaz

Ich setzte mich aufs Bett und sah zu Yilmaz Seite. Es war ein schleichendes Gefühl, aber mit den vergehenden Minuten, in denen ich einfach nur auf mein Bett saß, kam ein wenig Trauer in mir hoch. Ich fühlte mich einsam. Meine psychische Instabilität, die ich sowieso hatte, kam in dem Moment voll zu Geltung.
Und wie es so ist, kommt alles auf einmal, wenn man sich schon in so einer Situation befindet: mein desaströses Verhältnis zu meiner Familie, meine Neurosen, meine Abhängigkeiten und meine Psychiatrie Geschichte. Ich zog schließlich eine negative Lebensbilanz.


Nach einer Stunde ungefähr besann ich mich wieder und las den Brief nochmal. Ich merkte jetzt erst, wie positiv er war. Dinge wie »Potenzial« oder »Energie« nahm ich plötzlich Bierernst und es stimmte auch mit dem überein, was Natascha vorhin zu mir sagte.


Könnte es womöglich sein, dass mein größter Feind nicht Sebastian oder mein Bruder war, sondern ich selbst? Vielleicht hatte ich mir alles so zurechtgezimmert, dass ich annahm, ich hätte Feinde oder so ein Quatsch. Aber in Wirklichkeit ist mein größtes Hindernis meine Gedankenwelt, die mich daran hindert weiterzukommen. Ich musste raus aus dem Knast aus selbsterrichteten Gitterstäben. Aber wie nur?

Ich ging an diesem Tag schlecht gelaunt ins Bett. Am sechsten Tag stand ich genauso schlecht gelaunt wieder auf. Ich ging zur Toilette und betrachtete mich im Spiegel, äußerlich war wenig noch von meiner angeschwollenen Oberlippe zu sehen. Wenn ich mit der Zunge von innen drüber ging, war es immer noch dick, aber mein Gesicht war nicht mehr beeinträchtigt. Das hätte mir allemal Grund zur Freude gegeben, aber nein, ich fühlte mich psychisch schwach. Geht das eine Problem, kommt was Neues.
Als ich aus der Toilette rauskam, sah ich vom Weiten den Wagen, worin das Frühstück drin war. Es war kein Mensch, geschweige denn ein Pfleger zu sehen. Also ging ich langsam darauf zu, schaute dann, ob es irgendwo mehr gab als Brei und Suppe und fand endlich etwas: Putenschinken, Käse und zwei Weckchen. Ich nahm das Tablett und verkrümelte mich in mein Zimmer.


Nach einer Stunde ungefähr, als ich mir das Essen längst genehmigt hatte, und wieder gelangweilt auf mein Bett saß, klopfte es an die Tür. War es Natascha? Schnell stand ich auf und rief: »Moment!«, und setze mich auf den Stuhl am Esstisch, legte mein Bein auf das andere, nahm ein Buch und tat so als würde ich lesen.
»Herein!«, sagte ich.
Die Tür öffnete sich und es war einfach nur eine Pflegerin.
»Sie haben Besuch«, gab sie mir Bescheid.
»Wer ist es denn?«
»Er wartet im Aufenthaltsraum auf Sie. Es ist Ihr Bruder.«
Da klappte ich das Buch zu und es glitt aus meinen Händen. Umständlich versuchte ich, es aufzufangen, aber es fiel zu Boden.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Äh, ja. Und Sie sind sich sicher, das es sich wirklich um meinen Bruder handelt?«
»Eine gewisse Ähnlichkeit ist schon vorhanden.«
Und das behaupteten viele Leute, angefangen von meiner Mutter bis hin zu Leyla damals. Aber das war mir schon immer egal, denn unterschiedlicher kann man gar nicht sein, fand ich.

Ich ging zum Aufenthaltsraum. Keine Spur von Natascha. Aber dafür von Johnny. Er saß an meinem Lieblingsplatz und hatte eine Tasse vor sich stehen. Als ich reinkam und er ein wenig an der Tasse nippte, sah er mich. Er machte einen angeekelten Gesichtsausdruck.
»Was ist das für ´ne Brühe?«, fragte er mich und schüttelte sich ein wenig, »Ich dachte, das ist Kaffee.«
Der Wichser sagt nicht mal Hallo und macht jetzt auf Kaffee-Experte, dachte ich.
»Bist du jetzt verstummt oder was?«, fragte er, als er merkte, wie ich ihn nur anstarrte.
»Der Kaffee im Krankenhaus ist ohne Koffein!«, erwiderte ich darauf.
Er schaute mich selbstgefällig an und beäugte mich von unten bis oben. »Das muss ja besonders tricky für dich sein, als Koffein Junkie, stimmt’s oder hab ich recht?«
»Kann sein.«
»Aber schaden wird’s dir nicht. So viele Süchte wie du hast. Kiffst du eigentlich noch?«
»Nein.«
Und da haben wir es wieder: Kaum sehe ich meinen Bruder und schon befinde ich mich im Kampfmodus. Alle Alarmglocken waren aktiviert, wie in Kill Bill Vol. 1, als Uma Thurman bei Vivica A. Fox Haustür klingelt und sie sich in die Augen schauen, worauf diese berühmte Melodie ertönt.
»Willst du dich nicht setzen?«, sagte er in einem gelangweilten Tonfall.
Als ich mich setzte, starrte er meinen runden inzwischen getrockneten und nie wieder zu entfernenden Blutfleck an. Demonstrativ zog ich den Reißverschluss vom Kapuzenpullover auf und schon war es nicht mehr zu sehen.
»Ich weiß du hast kein Bock zu reden«, sagte er nach einer Pause, »aber Adej schickt mich.«


Hatte ich mir schon gedacht. Von allein wäre er nicht gekommen, da wäre sogar ein Eingeständnis von Tilo Sarrazin, dass er ein trotteliger Stotterheini ist viel realistischer. Wie auf Automatik verschränkte ich meine Arme. Ich wollte schon mit dem Stuhl ein wenig weiter wegrutschen, so als ob ich mich vor einem gefährlichen Virus schützen wollte. Aber das wäre ein wenig zu viel des Guten.


»Sie will wissen, ob du an Weihnachten kommen wirst. Und wie ich dich kenne, sagst du wieder ab.«
»Wenn du die Antwort schon kennst, warum fragst du dann?«, fragte ich.
»Es war eher so ´ne Theorie. Aber keine Abwegige. Fünf Jahre nicht an Weihnachten zu erscheinen ist fast schon ´ne Leistung. Wahrscheinlich die Einzige die du hast.«
»Sind wir fertig mit dem dissen?«, wollte ich wissen und meine Hände stützten sich auf meine Knie, so dass ich mich näher nach vorne beugen konnte.
»Wenn du mich kennen würdest, wüsstest du, dass ich der Mann der Ironie bin«, erklärte er.
»Aber das ist der Knackpunkt, ich kenne dich nicht.«
»Wie bitte?«
»Wie du schon sagtest, fünf Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen...«
»Redest du von Entfremdung oder wie«, sagte er und lächelte abfällig.
»Ich rede darüber, dass wir uns gar nicht mehr kennen.«
Er sagte nichts. Dafür lachte er heftigst.
»Was ist mein Lieblingsfilm?«, fragte ich schließlich nach einer Weile.
»Was?«, fragte er und hörte vor Überraschung auf, zu lachen, was sich mit der etwas unnormalen langen Dauer sowieso als Fake-Lache entpuppte.
»Wie hieß meine Ex?«
»Hä?«
»Wer ist mein bester Kumpel, den ich seit ich 14 bin kenne?«
»Jaja«, sagte er und machte mit dem Zeigefinger eine kreisförmige Bewegung, was heißen soll, mach ruhig weiter. Er wusste natürlich, worauf ich hinauswollte.
»Wann hab ich Geburtstag?«
»Ich hab fünf Kinder, da wirst mir verzeihen, dass ich mir deinen nicht auch noch merken kann.«
»DU WICHSER KENNST NICHT MAL MEINEN GEBURTSTAG?«, ich stand auf, hinter mir flog der Stuhl geräuschvoll auf den Boden. Ich stützte meine Hände auf den Tisch und kam ihm bedrohlich näher.
»Setz dich wieder hin.«, sagte er diesmal ruhig.
»Was?«, sagte ich und die Finger meiner beiden Hände zogen sich zu krallen zusammen.
»Du hast schon gehört, oder willst du nach deiner Genesung direkt in die Klapse eingewiesen werden? Wäre nicht das erste Mal aber eine scheiß Zeit dafür, von wegen Weihnachten und so.«
Kurz flackerte Sebastian vor meinem inneren Auge, wie er vor Begeisterung in die Hände klatschte und sagte: Na, Super, nach mir macht dein Bruder einen Superjob als Mobber.
Ich zügelte mich wieder, da ich in der Klinik war und ich auch nicht wie ein Verrückter eine Beruhigungsspritze bekommen wollte. Und seit ich die Psychiatrie-Szene aus Terminator 2 kenne, weiß ich, dass es keine schöne Situation ist.


Ich nahm den Stuhl, setzte mich wieder drauf, faltete meine Hände wie zu einem Gebet und atmete tief aus.
»Hör mal zu«, begann er, »ich bin der, der dir damals die Windeln gewechselt hat, sich mit deinem Klassenlehrer unterhalten hat, wenn du von irgendwelcher Mobbingscheiße erzählt hast, und ich war unfreiwillig dein Ersatzvater. Die Zeiten sind vorbei Haile, und ich kann vielleicht nachvollziehen, dass du dir die Zeit nochmal herbeiwünscht, aber was vorbei ist, ist vom Winde verweht. Ich bin jetzt Vater von fünf Kindern. Du bist 10 Jahre jünger als ich, aber es ist die Zeit selbstständig zu werden. Du bist, wie einer der im Treibsand feststeckt und nach Hilfe ruft, aber nicht auf die Idee kommt sich selbst aus dem Sand zu ziehen.«
Das gab mir den Rest, um das Gespräch abzubrechen. Ich empfand es auch nicht als eine Unterhaltung, sondern so als ob ich vor Gericht wäre. Ich stand wortlos auf und ging, als er noch sagte:
»Ich hab von Mutter von deinen Weltreise-Pläne gehört.«
Ich blieb stehen und drehte mich langsam um.


»Hört sich spannend an«, sagte er, »aber du kannst nicht einfach reisen, um deinen Problemen zu entfliehen. Du wirst sie sowieso mitnehmen, egal wo du bist, da sie ohnehin nur in deinem Kopf stattfinden. Denk mal drüber nach.«
Er nahm ein Tuch aus der Hosentasche, wischte sich damit den Mund vom Koffeinfeien Kaffee sauber und stand dann auf. Er ging an mir vorbei.
»Adej wird enttäuscht sein, wenn du wieder nicht kommst. Aber ich werde sie mal vorbeugend darauf einstimmen.«
Er ging zu den Fahrstühlen, aber ich wartete nicht, bis sich eine Tür für ihn öffnete, sondern ging den Gang entlang.


Ich brauchte jetzt einen Menschen, mit dem ich reden konnte und Natascha war prädestiniert dafür. Lieber würde, ich zwei Wochen im Krankenhaus dranhängen als mit diesem falschen Menschen, der sich mein Bruder nennt, eine Minute zu verbringen. Ich nahm mein Handy und schrieb ihr eine Textnachricht.


11. Kapitel

Ich stand noch immer im Gang, denn sie schrieb gleich zurück.

Natascha: Hi, ich wurde kurzfristig entlassen. LG.

Ich fragte, wie es ihr inzwischen ging, und wartete und wartete. Aber es kam nichts mehr ihrerseits. Unpersönlicher und mehr auf Abstand konnte man einen gar nicht mehr halten. Ich lehnte mich an die Wand zurück und dachte nach.
Was Johnny mir sagte, empfand ich am Anfang als so einen Bullshit, dass ich mir überhaupt gar keine Gedanken machen wollte. Doch jetzt mit der Nicht-Nachricht von Natascha kam ich schon ein wenig ins Grübeln.
Stimmte es, dass ich mir alles selbstverschuldet habe? Wenn man ein Leben lang belächelt und nicht, als voll genommen wurde, konnte es durchaus sein, dass man dieses Gefühl ein Leben lang mit sich trägt und auf die gegenwärtige Zeit mitnimmt. Das gleiche verläuft auch beim Mobbing: Das Jahrelange hänseln und quälen macht einen Menschen auch Jahrzehnte später noch misstrauisch, auch wenn er schon Freunde und vielleicht eine eigene Familie hat.
War es bei mir etwa so, dass ich die Leute mit meiner Art auf Abstand hielt, und das so subtil, dass ich das gar nicht merkte? War das der Grund, warum Natascha mir nicht mehr schrieb, ich in Sebastian immer noch einen Schulmobber sah oder warum ich mich von meiner Familie entfremdet hatte? Plötzlich suchte ich den Fehler bei mir.
»Herr Bereket.«
Die Pflegerin kam mir entgegen.
»Ja?«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Gut. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass sie heute einen neuen Zimmernachbarn kriegen.«
»Okay«, sagte ich und schlürfte lethargisch in mein Zimmer.

»Hey Enrico«, sagte ich. Ich wollte auf andere Gedanken kommen, also rief ich meinen Kumpel an. Ich wollte aus den depressiven Gedankenmustern, die ich immer hatte, wenn sich ein Problem in meinen Leben ergab, ausbrechen. Ich saß auf meiner Seite des Tisches und aß immer wieder mal Brotkrümel, die noch auf dem Tablett rumlagen.
»Was gibt’s Haile?«, fragte er.
»Ach, eigentlich nichts. Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.«
»Sehen? Wir telefonieren gerade.«
»Ja, stimmt«, sagte ich erschöpft.
»Was macht so das Leben in deiner Krankenhaus-Soap?«, wollte er wissen.
»Der Abszess ist so gut wie abgeklungen.«
»Das ist doch gut.«
»Ja.« Irgendwie wollte ich ihm nicht alles erzählen, obwohl ich vor Enrico keine Scheu hatte. Es war eher so, dass ich keine Lust hatte, alles wieder durchzukauen.
»Hör mal«, begann er, »Ich muss dir was erzählen.«
»Schieß los.«
»Du wolltest doch wissen, wie es Leyla geht...«
»Ja.«
»Also als ich gestern Nachmittag draußen war, um mein Auto zu putzen, hab ich sie vor der Tür ihres Hauses gesehen. Sie war nicht allein. Sie unterhielt sich mit ´nem Typen. Und ich glaube, du weißt schon, was ich meine, wenn ich sage, sie unterhielt sich mit ihm.«
»Haben sich die beiden geküsst?«, wollte ich wissen.
»Küssen? Die haben sich so ´nen langen Zungenkuss gegeben, dass man meinen könnte, es wäre ´ne olympische Disziplin.«
»Ach du scheiße!«, sagte ich reflexartig.
»Ich wollte es dir erstmal nicht sagen, aber ich glaube es ist jetzt die Zeit, sie endgültig aus deinem Leben zu streichen. Vergiss endlich die Olle, bro!«
Das ich den Schmerz der Trennung verdrängt habe im ganzen Trubel der letzten Tage, war klar, aber das Gefühl, dass Leyla einen anderen hatte, gab mir schon einen Stich. Und zwar ein Stich, dass inzwischen einer von vielen war. Was konnte noch schlimmer werden, als die ganzen Hiobsbotschaften?
Schlagartig ging die Tür auf. Ein etwa 70-jähriger Mann mit schütterem Haar kam herein, mit ihm die Pflegerin, die mir den neuen Zimmernachbarn ankündigte.
»Und ich sage Ihnen mal was: Mir ist egal, wie oft Sie sich entschuldigen. Fakt ist, dass ich mich beschweren werde.«, sagte er lautstark.
»Alter«, sagte Enrico am anderen Ende der Leitung, »wer plärrt denn da so rum?«
»Ich vermute, das ist mein neuer Zimmernachbar.«
»Oje. Der hört sich nicht gerade wie ein Charmebolzen an.«
»Ich leg mal auf, Enrico. So kann ich nicht telefonieren.«
»Alles klar, hau rein, bro!«
Ich legte auf, während der Streit zwischen den beiden immer noch weiterging.
»Beruhigen Sie sich jetzt bitte.«, sagte die Pflegerin, der man den Stress deutlich ansah.
»WIE BITTE?«, fragte der Mann, lautstark.
»ICH HABE GESAGT, BERUHIGEN SIE SICH JETZT BITTE.«, sagte sie auch nicht weniger leise.
»Ich bin ja ruhig, aber geben Sie es zu: Das ist schon ein starkes Stück, oder?«
»Ich kann Ihren Unmut, verstehen, Herr Wörther, aber...«
»Einem das Essen zu klauen, ist doch nicht gerade die feine Art!«, unterbrach er sie.
Ich sah auf das Tablett, was ich heute Mittag aus dem Wagen entwendet hatte. Dann schielte ich auf das Namensschild, worauf, Herr Wörther, draufstand. Mein Vorteil war, dass die beiden mich praktisch gar nicht wahrnahmen, also war es die Gelegenheit, das Stück Papier zu zerknüllen. Ich legte meine Hand auf das Tablett und griff nach dem Papier, während beide immer noch sprachen. Aber ich konnte es nicht zerknüllen, das wäre einfach zu laut gewesen.


»Das kann ich nachvollziehen«, sagte sie, »Aber nun sind Sie in einem anderen Zimmer...«
»JA«, unterbrach er sie wieder und fing an zu schimpfen, »WEIL DIESER ZIMMERNACHBAR DEN ICH BIS VOR FÜNF MINUTEN NOCH HATTE, EINE EINZIGE KATASTROPHE IST. ER SCHNARCHT UND REDET LAUTER MIST MIT SEINER FRAU AM TELEFON. ICH WERDE EINEN KEHRICHT TUN, UM DA NOCHMAL ZU SCHLAFEN. DA IST ES WAHRSCHEINLICHER DAS ICH AN OHRENSCHMALZ STERBE.«
Während dieser Schreierei zerknüllte ich das Beweisstück und keiner bemerkte etwas. Es lag nun, in meiner Hand, was zu einer Faust geballt war.
»Das ist übrigens Ihr neuer Zimmernachbar.«, sagte sie und zeigte auf mich.
»WIE BITTE?«
»DAS IST IHR NEUER ZIMMERNACHBAR?«
»DAS IST MIR DOCH EGAL!«
Ich stand auf und sagte: »Ich geh mal an die frische Luft.«
Die Pflegerin nickte und zeigte mir einen mitfühlenden Gesichtsausdruck, was so viel bedeutete wie, Sie tun mir ganz schön leid, mit dem Typen in einem Zimmer zu sein.

Ich zündete mir meine Zigarette an. Der Raucherpavillon war vereinsamt und lag neben dem großen Parkplatz. Das Rauchen ging wieder ganz normal vonstatten, keine Probleme mehr, weil ich endlich befreit war von der Riesenoberlippe. Trotzdem versprach ich mir diesen Mist drastisch zu reduzieren. Die Tage ohne eine Kippe im Schnabel waren zwar schwer, aber machbar.
Und während ich so hindämmerte vor Langeweile, hörte ich im Hintergrund mir zwei bekannt vorkommende Stimmen. Ich wusste sofort, wer das war, und drehte mich vorsichtig um. Weil vor mir ein geparktes Auto stand, sah ich sie erstmal nicht, also stand ich auf und sah die beiden. Johnny stand vor seinem Wagen und sprach mit unserer Mutter.


»So eine verdammte Scheiße.«, sagte ich. Die beiden drehten sich nach überall um und ich ging schnell in die Hocke. Ich kam mir wie so ein Privatdetektiv vor, der gerade, etwas aufgedeckt hatte. Langsam traute ich mich, wieder aufzustehen, aber da fuhren sie schon mit dem Auto davon. Was zur Hölle war das? Warum war meine Mutter dabei? Und warum kam sie mich nicht besuchen?
»Family is a bitch«, sagte ich und schlug auf den Holzsitz im kleinen beengten Raucherpavillon.
Ich hoffte, dass die Aasgeier sie alle terrorisieren würden, so ähnlich wie in dem Alfred-Hitchcock-Film die Vögel. Dann ist das ganze Haus voll mit diesen riesen Viechern. Und die reißen sich dann um das Weihnachtsessen. Ja. Das ist Gerechtigkeit!
Ich stand auf und wollte ein bisschen spazieren, um mich von diesen düsteren Gedanken zu lösen. Aber das erwies sich als unmöglich.

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