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"Der Kaffee im Krankenhaus ist ohne Koffein" Part 8

Knockin' on Heaven's door? Nein, zumindest in dieser Geschichte klopft es erstmal an der Zimmertür eines Krankenhauses. Aber wer steckt dahinter? Ist es vielleicht sogar der Weihnachtsmann? Das wäre wohl etwas abwegig, auch wenn in diesem Roman durchaus sowas wie magischer Realismus existiert.

Aber lüften wir nun nach und nach das Geheimnis hinter dem Klopfen.

PS: Es handelt sich um eine Super-Edition, d.h. diesmal gibt es 3 Kapitel hintereinander!

Von Daniel Zemicael

Part 1, Part 2, Part 3, Part 4, Part 5, Part 6, Part 7 zum Nachlesen!


14. Kapitel

»POLIZEI! MACHEN SIE DIE TÜR AUF!«, sagte die Stimme hinter der Tür.
»Was ist denn jetzt los?!«, fragte Herr Wörther.
»Keine Ahnung«, sagte ich und dachte an meine gestrigen Kiffereskapaden.
»POLIZEI! MACHEN SIE VERDAMMT NOCH MAL DIE TÜR AUF ODER WIR TRETEN SIE EIN!«
»Sie ist offen!«, sagte ich.
»SIND SIE UNBEWAFFNET?«
Herr Wörther und ich wussten nicht, was wir darauf sagen sollten.
»HABEN SIE VERSTANDEN? WIR VON DER LAPD SIND NICHT ZIMPERLICH!«


Das machte mich stutzig. Ich ging zur Tür und machte auf.
»WHAT’S UP«, sagte Enrico im gleichen Tonfall wie in dem ersten Teil von Scary Movie.
»Mann!«, sagte ich laut, »Wie kannst du uns nur so erschrecken? Mich und den armen Herr Wörther.«
Enrico schaute schräg an mir vorbei und grüßte meinen Zimmer-Nachbarn mit einem Handgruß.
»T’schuldigen Sie, Herr Wörther.«, sagte er, »ich wollte ein bisschen Action in eurem Klinikalltag bringen und da ist mir dieser geniale Einfall mit der Los Angeles Police in den Sinn gekommen.«
»Kein Problem«, sagte Herr Wörther lachend, »In meinem Alter ist mir jede Action recht, die meinen Alltag ein bisschen spannender macht.«
Enrico hatte so viel Charme, dass man annehmen könnte, falls er in Amerika reisen würde und dort die Todesstrafe aufgehalst bekommen sollte, es ihm trotzdem gelingen würde, seinen Henker umzustimmen.

Enrico und ich standen vor der Tür der Klinik und rauchten unsere Zigaretten. Ich machte eine traurige Miene und schwieg. Was nicht gut war, denn je mehr ich mich meiner Gedankenwelt hingab, bestand die nur aus düsteren und furchteinflößenden Visionen. Ich musste immer beschäftigt sein, so wie das Schreiben, aber auch das Unterhalten mit anderen Menschen. Es kam mir so vor, als floh ich vor mir selbst. Das war genauso wenig gut.


»Mann«, sagte Enrico mich beobachtend, »aus deinen Gesichtszügen spricht die Depression.«
»Sieht mir das wirklich an?«
»Schlimmer: Es scheint eher so, als hätte dich die Depression verschluckt und du säßest jetzt im Magen dieser Krankheit.«
Er kam näher, krümmte sich auf meine Bauchhöhe und rief: »Haile! Komm scheiße nochmal aus dem Bauch von diesem Scheißkerl. Haile! Mr Depression sollte nicht als Sieger aus diesem Kampf kommen. Box dich raus und dann gehen wir einen Trinken.«


Ich musste darauf einfach lachen. Als jemand aus der Schiebetür kam, stand Enrico schnell wieder grade wie eine Eins. Das brachte mich wieder zum Lachen.
»Siehste«, sagte er, »Schon besser. Die Depression hat dich praktisch wieder ausgekotzt.«
»Eine wunderschöne Metapher, vor allem mit dem Teil vom Kotzen.«
»Danke. Ist mir spontan eingefallen«, sagte er, meine Ironie absichtlich ignorierend.
»Aber das hilft mir auch nicht mein Problem zu lösen.«
»Welches denn, von den Tausenden?«
Ich schaute ihn schräg an.
»Ja, ich weiß schon welches du meinst.«
»Was soll ich nur tun, Enrico?«
»Du wirst Weihnachten bei deiner Familie verbringen. Punkt.«
»So einfach?«
»So einfach.«


»Ich will ja hin, aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass mich meine Mutter nicht da haben will und von meinem Bruder fangen wir erst gar nicht an.«
»Papperlapapp!«
»Was? Wie erklärst du dir, dass meine Mutter unten im Wagen auf Johnny gewartet hatte, statt mich zu besuchen?«
»Ich weiß es nicht, aber ich stelle mal Mutmaßungen an: Du warst fünf Jahre nicht an Weihnachten da, hast sie damit unglücklich gemacht und – so wage ich mal zu vermuten – wollte sie nicht vor dir sitzen und sich wieder anhören, dass du nicht kommen wirst. Versetz dich mal in ihre Lage.«
»Du kennst meine Mutter nicht. Die kann knallhart sein.«
»Nein. Im Kern sind Mütter alle gleich. Ich nenne es die-nervige-Mutter-Liebe. Das ist ein Symptom.«
»Was denn für ein Symptom?«


»Guck mal: Welcher Mensch ist die erste Person, die dich im Spielplatz vor all den anderen Arschloch-Kindern beschützt? Welcher Mensch achtet darauf, dass du im Winter mit ´ner dicken Jacke rausgehst und nicht mit ´nem Hoodie worauf ein Blutfleck zu sehen ist, wie bei dir gerade. Welcher Mensch reißt sich den Arsch auf, um alles zu geben, dass du ein besseres Leben hast? Und wenn wir schon bei Leben sind: Welcher Mensch will auf keinen Fall nach dir sterben. Weiß du, was man aus dieser Erkenntnis ziehen kann? Genau! Mutterliebe. Und diese Mutterliebe nehmen wir leider nicht immer an, weil wir sie als nervig wahrnehmen.«


Mein Handy vibrierte. Es war eine SMS. Ich schaute nach, worauf mir ein Lautes »Scheiße!« aus dem Mund kam.
»Was ist denn?«, fragte Enrico.
»Ich hab grad eine SMS von meinem Bruder bekommen.«
»Und was schreibt er?«
Ich drehte mein Handy so, dass wir beide zusammen stumm die Nachricht lasen.

Morgen ist Heiligabend. Wollte dich nur daran erinnern, weil es dir nichts bedeutet, aber manchen schon. Eine davon ist deine Mutter. Wie du wahrscheinlich wissen wirst, wird sie sehr traurig darüber sein, deswegen verstehen wir, meine Frau, meine Kinder und einschließlich ich, nicht warum du so einen Scheiß machst. Trotz allem, schöne Weihnachten.

»Scheiße, Alter!«, sagte diesmal Enrico.
»Und wie!«, begann ich, »Dieser Scheißkerl will mir doch nur ein schlechtes Gewissen machen. Das ist emotionale Erpressung.«
»Es klingt eher so, als wüsste er nicht mehr weiter...«, versuchte Enrico die Sache mit einfühlsamen Worten zu verstehen, worauf ich ihn böse anstrahlte. »Und es ist emotionale Erpressung«, schloss er noch den Satz.
»Scheiß auf alles. Die können mich mal!«
»Was hast jetzt vor?«
»Ich weiß es jetzt ganz genau!«
»Und zwar?«
»Enrico, ich muss wieder hoch und ein bisschen allein sein, lass uns mal die Tage schreiben.«
»Okay«, sagte er und ich sah ihm förmlich an, wie er sich Sorgen machte.


Ich ging an den Schiebetüren vorbei und war so aufgebracht, dass ich im Gang einen Typen anrempelte, den ich gar nicht auf mich zukommen sah.
»Hey, passen Sie doch auf!«, sagte der Blödeimer. Ich war auf hundertachtzig. Ich wollte nicht mal den Fahrstuhl nehmen, sondern die Treppe, damit ich mich ein bisschen beruhigen konnte, und die sechs Stöcke laufen waren genau ideal. Als ich oben war, ging es mir jedoch auch nicht viel besser. Doch eine Entscheidung war wenigstens gefällt, und zwar:
Ich! Werde! Nicht! An! Weihnachten! Bei! Meiner! Familie! Sein!


15. Kapitel

»Ich bin echt froh, Sie zu hören«, begann ich, »also ich fühle mich nicht wirklich wohl...«
»Äh, was fehlt Ihnen denn?«, fragte eine jung klingende Frau am anderen Ende der Leitung.
»Stellen Sie sich vor, Ihr Leben wäre ein Song. Und ich meine nicht ein Schlager oder irgendein anderes Zeug, was eine vermeintlich heile Welt besingt, nein, dass meine ich eben nicht. Mein Leben ist genau so wie in dem Lied Everthing happens to me.


Damit meine ich die Chat Baker Version, die wirklich wunderschön interpretiert ist, aber im Kern von mir handelt. Da ist ein Typ, bei dem alles schief geht, also alles, was man sich vorstellen kann, praktisch, eine gescheiterte Existenz und während dieser Pechsträhne lernt er eine Frau lieben und denkt, ich zitiere mal auf Deutsch: Zuerst dachte mein Herz, du könntest dieses Unglück für mich überwinden, das die Liebe so trickreich sein würde, meine Verzweiflung zu beenden. Aber nun kann ich diesen Kopf, der für mich denkt, nicht mehr zum Narren halten. Ich habe all meine Luftschlösser verpfändet.
Ich hoffe jetzt das mich ein bisschen besser verstehen. Außerdem leide ich an einer schweren Depression, die gerade an der Weihnachtszeit ihre volle Blüte entfaltet. Ich kann einfach nicht zu meiner Familie, die hasst mich.«
»Warten Sie?«, sagte die jung klingende Frau am Telefon, »ich verbinde Sie mit unserem Arzt vom Dienst.«
»Wie bitte?«, fragte ich, »mit wem hab ich die ganze Zeit geredet?«
»Mein Name ist Raschke. Ich bin nur von der Information. Ich wollte Sie allerdings nicht unterbrechen. Sie können unheimlich gut reden und ich hing Ihnen förmlich an den Lippen.«


»Irgendwie seltsam, ein Kompliment von einer aus der Information zu bekommen. Ist mir in der Geschichte meiner Psychiatriezeit nie passiert.«
»Ich bin noch neu hier in der Psychiatrie.«
»Ja, das erklärt einiges. Aber Danke.«
»Wollen Sie noch mit dem AVD sprechen?«
»Nein, danke. Mein Pulver ist für heute verschossen.«
»Das tut mir so leid.«
»Macht nichts, auf Wiedersehen.«
»Warten Sie bitte kurz.«
»Ja?«
»Dass Sie keinen Arzt mehr sprechen wollen, tut mir wirklich leid. Ich habe Ihre Zeit verschwendet.«
»Das macht wirklich nichts. Ich bin gerade in der HNO-Klinik, vielleicht erwisch ich hier noch einen Arzt.«
»Sie sind gerade in einer Klinik?«
»Ja, wieso?«
Sie lachte.
»T’schuldigen Sie, dass ich lache, aber das ist mir noch nie passiert, dass jemand aus einer Klinik aus eine andere Klinik anruft.«
»Ich weiß, das ist kurios.«
»Was ich Ihnen sagen wollte: Ich bin eigentlich Studentin und habe mit meinen Kommilitonen eine Band. Wir spielen im Multicultural, das ist ein toller Club, wenn Sie wollen können Sie kommen, es ist am 27. Dezember.«
»Ich überlege es mir mal. Aber vielen Dank.«
»Bitteschön! Ich wünsche Ihnen trotz allem schöne Weihnachten.«
»Danke, tschüss.«
Ich legte auf. Auch wenn es nett gemeint war, aber ein Konzert zu besuchen, half mir auch nicht weiter. Ich war eben tief im Sumpf und konnte mich nicht rausziehen.

Ich ging aus meinem Zimmer und sah, wie die Tür von der Notfalltreppe mit einem dicken Schal einen Spalt weit geöffnet war. Vorsichtig ging ich dort hin, schaute mich mehrmals um, kein Mensch zu sehen, also öffnete ich die Tür und schloss sie leise von außen.
Der Wind wütete und ließ mich schaudern. Die Notfalltreppe, die noch zwei Stockwerke nach oben führte, war mir scheißegal, mein Ziel war das Gelände. Ich stützte mich ab und schaute nach unten. Ganz schön tief, dachte ich, aber dafür wäre der Schmerz bei dem Aufprall nach unten nicht so wild. Was ist schon eine Millisekunde Schmerz zu Ewigkeiten Friede Freude Eierkuchen?


»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte eine mir bekannte Stimme, die ich aber nicht zuordnen konnte, »hattest du doch immer Höhenangst.«
Ich schaute hinter mir zur Tür, keiner da. Ich schaute links, da war auch keiner. Als ich schließlich nach rechts zur Feuertreppe sah, war ich so überrascht, dass ich zusammenzuckte.
»Keine Angst«, sagte Sebastian mit vorgehaltenen Händen, und sich langsam zu mir nähern. Zwischen seinem Finger lag eine Kippe in der anderen Hand, eine Colaflasche.
»Was machst du denn hier? Ich dachte, du hast Urlaub«, sagte ich inzwischen zitternd. Vor allem wegen des kalten unbarmherzigen Wetters, aber auch wegen meiner Situation.
»Da siehst du mal, was für arme Schweine wir Pfleger sind. Ein Kollege ist krank geworden, da musste ich einspringen.«
»Ja, du bist wirklich ein Armer. Du tust mir wirklich Leid«, sagte ich etwas herablassend. »Und komm nicht näher«, fügte ich noch hinzu.
»Okay, okay, ich komm nicht näher.« Er blieb stehen, drückte seine Zigarette aus und stellte seine Flasche auf den Boden.
»Hör mal, Haile«, begann er, »ich bin nicht dumm, und ich weiß, was du mir die letzten Tage mitteilen wolltest...«
»Ach ja?«, unterbrach ich ihn.
»Natürlich. Naja, ich brauchte zwar ein paar Tage, um nochmal die Zeit Revue passieren zu lassen und zwar selbstkritischer, da merkte ich eins: Ich war wirklich ein egoistischer Mensch gewesen damals. Wenn ich überlege, was ich alles getan habe, Menschen ausgeschlossen, dumme Witze gemacht und im Unterricht kaum aufgepasst. Ich wundere mich, dass ich mein Abi tatsächlich geschafft habe«, er lächelte kurz, »es hat mich wirklich geschmerzt zu wissen, dass du deswegen sauer auf mich bist. Und deswegen bin ich fast froh, dass du noch in der Station bist, obwohl ich natürlich hoffe, dass du bald entlassen wirst, damit du Weihnachten daheim verbringen kannst, aber ich wollte dir nur auf dem Weg mitgeben, und zwar, dass Menschen sich ändern können...«


»Wie meinst du das«, unterbrach ich ihn wütend, »Die Zeit von damals ist vorbei also vergessen wir doch deine Schandtaten, meinst du das? Jedes Mal, wenn ich neue Leute kennenlerne und die sich irgendwie seltsam verhalten, denke ich, liegt das an mir, habe ich was falsch gemacht? Ich habe die ganze Zeit Selbstzweifel, was mir erst in der Schule eingepflanzt wurde, dessen Hauptverantwortlicher jetzt vor mir steht. Du sagst jetzt, Menschen können sich bessern und wir sollten doch einfach nach vorne sehen und blablabla...«
»Was ich auch sagen wollte war einfach«, unterbrach er mich diesmal, »Das man sich ändern kann, und in meinem Fall ist es so, dass ich nicht der gleiche miese Typ bin wie mit neunzehn.«
»Was bringt mir das, das macht deine Schandtaten von damals auch nicht ungeschehen.«
»Aber«, wandte er ein, »Man sollte sich von der Vergangenheit nicht so abhängig machen.«
»Ich weiß«, sagte ich aus Reflex, und wollte schnell was anderes sagen, um ihn nicht Recht zu geben, »Steh doch endlich dazu, dass du damals das größte Arschloch warst.«
»Ich war das größte Arschloch.«
»Was?«, ich war überrascht.
»Man sollte auch zu dem stehen, was man vermasselt hat«, er seufzte, »Wenn man dein Blickwinkel mitbedenkt, war die Schulzeit gar nicht mal so spaßig.«
»Stimmt«, sagte ich, »sie war eher wie die ganzen Scary Movie Fortsetzungen, die waren auch nicht gerade erfreulich.«
Sebastian grinste.


»Ich habe einen 3-jährigen Sohn«, sagte er nachdenklich, »und will nicht, dass er auch so ein aufbrausender Honk wird wie sein Vater.«
»Das hört sich schon mal besser an«, sagte ich.
Da standen wir nun. Zwei ehemalige Schulkameraden. Zwei ehemalige Erzfeinde. War jetzt alles wieder gut? Fest stand auf jeden Fall, dass ich das Gespräch, das ich schon vor Tagen führen wollte und das kolossal misslang, sich jetzt besser anfühlte. Der ganze Frust, den ich mir so über die Jahre angefressen hatte, war tatsächlich raus. Es war ein kathartischer Moment.
Diese Stille, die jetzt herrschte, hätte noch länger gehen können. Es war genauso, als hätten Ärzte in einer vor Jahren durchgeführten Operation irgendein Werkzeug im Magen des Patienten vergessen und nun, nach einer schmerzhaften, quälenden Zeit, ist es endlich entfernt worden. Und jetzt ist der Patient endlich frei und will sich erholen. So ging es mir.
So froh ich war, mit Sebastian das geklärt zu haben, so wohl ich mich auch zwar fühlte mit dem Gefühl, es half nicht gegen die Kälte. Wir froren uns beide den Arsch so ab, dass ich nicht der Einzige blieb, der mächtig zitterte.
 »Was soll denn das?«, Sebastians Kollegin stand vor der Tür und musterte uns beide argwöhnisch. »Patienten haben hier keinen Zutritt.«
»Keine Sorge«, sagte Sebastian »ist meine Schuld. Hatte nur mit meinem ehemaligen Schulkameraden was zu klären.«
»Okay«, sagte sie, »Aber kommt schnell rein, sonst holt ihr euch noch den Tod.«
Sebastian ließ mich vor und so gingen wir nacheinander wieder in die Station.


16. Kapitel

»Ich hätte niemals im Leben gedacht, dass sich das klären würde.«, sagte ich.
»Und wie fühlst du dich jetzt«, fragte Niko.
Es war wieder abends. Kaum was los auf dem Klinikgelände und wieder arschkalt. Doch diesmal war mein Hoodie verschlossen und ich hatte die Kapuze auf meinem Kopf.
Ich wartete diesmal lange auf Niko, obwohl wir keine Uhrzeit ausgemacht hatten. Doch als er mit dem Rollator angerollt kam, und wir uns begrüßten, sprudelte es wieder aus mir heraus. Ich erzählte ihm wieder alles.
»Wie ich mich fühle?«, wiederholte ich seine Frage, »einfach Super-gedupert!«
»Das ist doch gut«, sagte er.

 

An dem Tag war Niko ziemlich einsilbig. Er saß mir genau wie gestern auf seinem Rollator gegenüber, während ich auf der gleichen Bank saß. Einen Joint gab es keinen, aber insgeheim wartete ich darauf, dass er wieder einen aus seiner Hemdtasche herausfischte.
»Aber ist ein Problem gelöst, kommt schon das nächste«, ich schaute zu Boden.
»Welches ist das nächste Problem?«, wollte er wissen.
»Naja, morgen ist Heiligabend. Ich muss mich jetzt endlich entscheiden, was ich will. Das ist die letzte Chance.«
 »Ich dachte du willst nicht zu deiner Familie.«


»Ja, nein, ich meine...Mann, ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein.«
»Schau mal«, sagte er und machte eine kleine Pause, »du hast gerade berichtet, dass dir das klärende Gespräch mit diesem Sebastian geholfen hat, oder?«
»Äh, ja hat es.«
»Warum sollte das nicht mit deiner Familie klappen?«
Ich schwieg.


»Geh zu deiner Familie und tu Folgendes: Nimm dir ein Löffel und klopfe damit auf ein Glas, woraufhin du dann aufstehst, und jetzt pass auf: Du hältst eine Rede...«
»Eine Rede?«, unterbrach ich ihn. »Ich stell mich doch nicht hin und trage irgendwas vor. Wer bin ich, Shia LaBeouf, der Just Do It rumbrüllt?«
»Du sollst nicht irgendwas vortragen. Es muss spontan kommen, aus dem Herzen, um es mal pathetisch auszudrücken.«
»Ich weiß nicht, meine Familie ist ein etwas anderes Kaliber«, sagte ich.
»Ohne Kommunikation läuft nichts. Du musst es versuchen, um zu wissen, dass es wirklich nicht klappen wird.«
»Ohne Kommunikation läuft nichts«, wiederholte ich wieder und lächelte. »Das hat mir schon mal einer gesagt.«
»Haile, du hast dich jetzt so gut weiterentwickelt, warum sollte das deine Familie nicht sehen?«
»Verdammte Scheiße!«, brüllte ich.
»Was?« Sagte er überrascht.
»Du hast verdammt noch mal recht! Ich gehe zu meiner Familie und zeig ihnen, wo der Hammer hängt!«
»Ja das ist eine gute Einstellung. Aber ich schlage dir vor, nicht allzu kämpferisch bei deiner Familie aufzutreten, ist ja schließlich Weihnachten.«
»Okay. Danke Niko. Das bedeutet mir so viel, dass ich mit dir reden kann.«
»Im Gegenteil. Es hat mir viel bedeutet mit dir zu reden.«


»Hey, lass uns doch die Nummern austauschen. Dann können wir auch außerhalb der Klinik mal was unternehmen.«
»Ich halte das nicht für eine gute Idee.«
»Wieso das denn?« Ich war so überrascht, denn ich dachte, es wäre nach diesen intensiven Tagen eine Selbstverständlichkeit gewesen. »Woran liegt es«, fragte ich, »hab ich dich so vollgelabert, dass es dir jetzt reicht, oder so?«
»Nein, das auf keinen Fall. Ich habe Morbus Koch.«
»Ich weiß jetzt zwar was Abszess bedeutet, aber davon hab ich nie was gehört.«
»Morbus Koch ist auch besser bekannt als Tuberkulose.«
Ich riss meine Augen auf, das hatte ich nicht erwartet. Ich brachte kein Wort raus.
»Ja Haile, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Aber das ist kein Grund, um desillusioniert zu sein. Ich bin glücklich.«
Ich schaute ihn fragend an.
»Ich sehe die Sache nicht mehr so negativ. «
»Wirklich?«


»Anfangs dachte ich ähnlich wie in dem Song alone again naturally. Ich bevorzuge übrigens die unbekannte Fassung von Todd Gordon, ich fand nur diese Version bringt die ganze Tragik namens Leben auf den Punkt.
Aber dann merkte ich, wie das nicht auf jeden zutrifft, mich eingenommen. Man sollte versuchen, das Leben nicht durch einer Brille zu sehen, die auf Grau schaltet, wenn man sie trägt. Das Leben ist nicht scheiße. Klar, es gibt Ungerechtigkeiten wie Krankheit oder soziale Ungleichheit, aber dann fand ich heraus, dass es auf den Blickwinkel ankommt, dass das Denken eines jeden Menschen damit zu tun hat wie er oder sie auf das Leben schaut.


Ich könnte jetzt sagen, ich bin 23 Jahre alt, hätte noch so viele Pläne gehabt die ich gerne umsetzen würde, die mir jetzt verwehrt bleiben, aber anstatt das zu denken oder gar zu auszusprechen, lebe ich den Moment. Ich gehe viel raus, beobachte Menschen, rede mit ihnen und versuche, das so lange wie möglich in meinen Herzen zu bewahren bis mein Tag kommt.«
Während er sprach, wischte ich ständig über meine Augen, um meine Tränen zu verbergen.


»Ein Rat gebe ich dir mit«, sagte Niko, »mein letzter sozusagen. Versuche das Leben nicht, wie ich vorhin meinte, durch einer grauen Brille zu sehen, sondern versuche das beste für dich rauszuziehen.«
»Oh Mann, Niko, ich schäme mich so«, sagte ich, »Meine Problemchen von denen ich dir die ganze Zeit erzählt habe, sind doch gar nichts im Gegensatz zu dem, was du durchmachen musst.«
»Und jetzt sag ich dir was«, setzte er an, »Hier mit dir zu sitzen und zu reden, war ein tolles Geschenk.«
»Ein Geschenk?«, fragte ich.
»Ja, man könnte sagen, ein tolles Weihnachtsgeschenk«, er lächelte.
»Du liebst wohl sehr Weihnachten?«
»Ho! Ho! Ho! Baby!«


Wir lachten gemeinsam. Meins war bitter. Seins war ausgelassen.
»Kann ich dir irgendwas Gutes tun? Irgendwas?«, fragte ich.
»Kennst du das Buch Dienstags bei Morrie
»Nein.«
»Das solltest du lesen, bei Gelegenheit. Dort heißt es ›Geben bedeutet Leben‹ und ich danke dir, dass wir uns kennengelernt haben, du hast mir damit sehr viel gegeben. Halte mich und die zwei Tage mit uns in Erinnerung. Und trink ab und an einen auf mich. Damit hast du mir schon viel geholfen.«
Er stand auf, tätschelte mich am Kopf und lächelte. Obwohl mich Nikos Schicksal anfangs überforderte, wollte ich nicht tatenlos dasitzen, dennoch wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, aber das Folgende war nicht geplant: Ich stand automatisch auf und umarmte ihn stürmisch.
Danach schaute ich ihn an. Wieder lächelte er. Er klopfte mir auf die Schulter, nahm anschließend seinen Rollator und ging damit einige Meter weiter. Als er stehen blieb, drehte er sich um und sagte: »Schöne Weihnachten, Haile!«
»Schöne Weihnachten, Niko!«


Er setzte seinen Weg fort, während ich mich wieder auf die Bank setzte. Ich schaute zu Boden, ich musste das alles erst einmal verdauen.
Nikos positive Einstellung war so ansteckend und doch so fern für mich, dass ich es einfach nicht fassen konnte, wie ein Junge in meinem Alter so lebensfroh war im Angesicht des Todes. Es ging einfach nicht in meinen Kopf rein. Was blieb, war tiefes Staunen und Bewunderung.


Ich versprach mir nie wieder, falls ich mal in einer schwierigen Phase meines Lebens feststeckte, alles grau und ausweglos zu betrachten, sondern nach Lösungen zu suchen und nicht lethargisch in Depressionen zu versinken.
Wie ich doch mein Leben lang nach Meinungen von anderen süchtig war. Dieses Denken, das man abhängig sei, von allem und jedem, war mir in diesem Augenblick plötzlich völlig fremd vorgekommen. Erst jetzt begriff ich, wie ich mich aus den selbsterrichteten Gitterstäben befreien konnte: mit Selbstliebe. Das ist das Fundament, aus dem dann alles nachkommt. Sei es gute Freunde, Erfolg oder auch eine Freundin. Nur wer sich selbst liebt, ist nicht zwanghaft angewiesen auf die Meinung anderer. Und ich versprach mir, mich nie wieder klein zu machen oder mich aufzugeben.


Ein letztes Mal wollte ich noch nach Niko Ausschau halten, wie er mit seinem Rollator durch das Klinikgelände lief. Seltsamerweise war er schon verschwunden. Und das, obwohl er so langsam war.
Ich nahm aus der Tasche meines Kapuzenpullovers eine Zigarette, rauchte eine und schaute in den dunkelen Himmel.

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