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"Der Kaffee im Krankenhaus ist ohne Koffein" Part 9

Wir befinden uns langsam im Endspurt um Haile und seinem Krankenhaus-Epos. Es ist viel passiert und nun ist auch noch bald Heiligabend. Die Vorbereitungen für den Abschluss dieses Romans werden im folgenden getroffen. Wie wird Haile entlassen? Wie wird er Weihnachten verbringen? Fragen über Fragen! Nun kommen die Antworten.

Part 1, Part 2, Part 3, Part 4, Part 5, Part 6, Part 7, Part 8 zum Nachlesen!

Von Daniel Zemicael


17. Kapitel

»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragte mich genau der Arzt, den ich nach meiner ersten Nacht in seinem Büro gesprochen hatte. Nach einem Kontrollcheck von Mund und Nase schien er sichtlich zufrieden zu sein.
»Also körperlich geht’s mir wirklich gut.«
»Ja, der Abszess ist weg und die Schwellung zurückgegangen.«
»Wie es aussieht, ist das eine Punktlandung«, sagte ich.
»Wie bitte?«, fragte er.
»Eine Punktlandung. Wir haben jetzt den 24. Dezember und ich kann entlassen werden.«
Er schien es jetzt erst zu verstehen und lachte.
»Ist doch so, dass ich nach Hause kann, oder?«, wollte ich wissen.
»Aus medizinischer Sicht könnten Sie zwar noch eine Nacht hier bleiben, aber ich glaube, das kommt für Sie nicht in Frage.«
»Da haben Sie verdammt richtig geraten.«
»Gut«, schmunzelte er, »Sie sollten allerdings noch vier Tage Antibiotika zu sich nehmen. Einer der Pfleger wird es Ihnen mitgegeben. Das können Sie nämlich auch von daheim aus.«
»Okay«, sagte ich und war heilfroh, dass ich die vier Tage nicht hier im Krankenhaus die Tabletten einnehmen musste.


»Gut«, sagte er wieder, »da bleibt mir nur zu sagen, feiern Sie Weihnachten schön und ein gutes neues Jahr.«
»Danke«, wir gaben uns die Hand. »Und arbeiten Sie nicht so hart, Doc.«
»Das ist nett gemeint, aber leider illusorisch. Gerade in dieser Zeit herrscht großer Andrang in den Kliniken.«
»Dann seien Sie froh, dass Sie eine Last weniger haben, mich.«
Er lachte kurz.


»Stört es Sie denn nicht so einen stressigen Job zu haben?«, fragte ich.
»Naja, von nichts kommt nichts, wissen Sie?«, meinte er und schien kurz zu überlegen. »Das einzige was mich stört ist, dass ich nicht mehr richtig zu Lesen komme. Aber was soll man machen, so ist das Leben. Lesen Sie viel?«
»Ja und ich schreibe.«
»Was denn?«
Da fiel mir mein Manuskript ein, das unbeaufsichtigt in meinem Zimmer lag. Ich wollte so schnell wie möglich dort hin. Also stand ich schnurstracks auf und verließ den Raum.
Erst im Flur bemerkte ich, was das für eine arschige Aktion war, also drehte ich mich gleich um und ging zurück ins Büro, woraufhin ich dem Arzt sagte: »Fröhliche Weihnachten und danke für alles.« Dann ging ich wieder zum Flur und eilte in mein Zimmer.

Ich machte die Tür auf und da sah ich es: mein Manuskript wie immer auf dem Tisch liegen. Das beruhigte mich. Als ich ins Zimmer eintrat, sagte Herr Wörther hinter mir:
»Da bist du ja.« Woraufhin ich kurz erstarrte. Denn der Grund all meines Stresses war, dass er nicht in meinem Manuskript lesen durfte. Aus bestimmten Gründen.
»Ah, Herr Wörther«, sagte ich, »wie geht’s denn so?«
»Setz dich mal hin.«
»Wieso?«
»Setz dich einfach mal hin.«
»Habe es heute ein klein wenig eilig. Also nehmen Sie es mir nicht krumm.«
»Jetzt, setz dich hin und sag nichts!«
Blitzschnell nahm ich auf meinem Stuhl Platz. Er kam von seiner Seite des Zimmers auf mich zu, stellte sich mir gegenüber und lehnte sich an dem Fußende meines Bettes.


»Ich muss mit dir reden.«, dann machte er eine Pause, die mich nervös machte, »Kannst du dich noch erinnern, als ich das erste Mal hier aufgekreuzt bin?«
»Wieso fragen Sie?«
»Kannst du dich nun erinnern?«
»Äh, ja«
»Bravo. Dann erinnerst du dich bestimmt auch, dass ich rumgemault habe, weil mir jemand das Essen stahl, oder?«
Ich fing an zu schwitzen.
»Ja oder nein?!«, brüllte er wieder.
»Ja natürlich ... ich meine ich kann mich vage daran erinnern.«
»Was denn nun? Entweder du erinnerst dich oder nicht.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wieder Bravo. Ich weiß jetzt, wer das Essen weggemampft hat.«
»Ach ja?«
»Oh ja.«
»Wer denn?«
»Du!«
»Ich?«
»Genau.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Weiß du, was ich jetzt mache?«
»Äh ... nein.«
Er kam näher. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ihn an und dachte, gleich scheppert es und während ich mich mit dem Stuhl an die Wand lehnte, verließ mich die Hoffnung, heute entlassen zu werden, weil er mir bestimmt in die Oberlippe hauen würde.
Doch stattdessen streckte er mir die Hand entgegen. Ich verstand nur Bahnhof.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte er.
»Ich hab erst im Februar Geburtstag«, verriet ich.
»Meine Güte, du hast wirklich keine Ahnung, was ich meine, oder? Also gut, lass es mich so erklären« er ging zu seinem Stuhl und setzte sich mir gegenüber. »Also seit ich im Ruhestand bin, habe ich viel Zeit, das kannst du dir ja denken. Und ich lese viel. Vorzugsweise alte Kriminalliteratur von Raymond Chandler bis Jim Thompson. Die sind aus den 40ern. Ich lese nichts mehr Neues. Weil es doch einfach ein Nachklapp von etwas ist, was es schon gab. Aber das wissen die meisten jungen Leute gar nicht, weil sie sich genau so verhalten wie Gegenüber alten Filmen. Sie schauen oder lesen nichts Altes! Konfrontiere einen 20-jährigen mit einem Schwarzweißfilm und du siehst ihn flitzen.
Nicht mal furiose Filme aus den 70ern wie Taxi Driver, dessen Nachklapp Joker von Todd Phillips nur eine abgeschwächte Version war. Aber ich schweife ab.
Also warum erzähle ich dir das alles? Weil mich der ganze moderne Schmu von heute nicht mehr interessiert...«


»Was bedeutet Schmu?«
»Das bedeutet Schwindel oder Augenwischerei, ein altes umgangssprachliches Wort, was du eigentlich wissen solltest.«
»Wieso?«
»Wie bitte?«
»Ich fragte, wieso.«
»Na, weil du als Schriftsteller einen großen Wortschatz brauchst.«
»Als Schriftsteller?«
»Mein Gott«, sagte er, stand auf und klatschte ein paar Mal in die Hände, »Wach doch endlich auf«, er setzte sich wieder. »Dein Manuskript ist besser als so viele veröffentlichte Bücher, die es heute gibt.«
»Sie haben mein Manuskript gelesen?«
»Ich war so frei. Ich hab mit Neugier, Freude und Spannung gelesen. Das Ding lebt sag ich dir.«
»Ja, danke.«
»Ist dir alles so passiert oder hast du einiges erfunden?«


»Also in Grundzügen ist es teils wahr, aber ich hab mich bemüht alles fiktional zu halten. Es ist eben ein Roman.«
»Das stimmt, wobei du den Raub von meinem Essen in deinem Roman integriert hast.«
»Ja, das hätte ich vielleicht nicht machen sollen.«
»Warum? Stehe zu deinen Sünden. Aber um nochmal zum Thema zurückzukommen, du hast unglaubliches Talent im Schreiben. Nutze es. Ich will deinen Roman im Laden sehen.«
»Das habe ich nicht erwartet, aber danke Herr Wörther. Das bedeutet mir sehr viel.«
»Nur eins noch: Bin ich wirklich so ein Griesgram?«
»Naja«, sagte ich zögerlich, »vielleicht ein bisschen, aber sie haben Potenzial für eine Wandlung in meinem Roman.«
»Das hört sich ja vielversprechend an. Kann ich dann die finale Fassung lesen, wenn du so weit bist?«
»Ich werde heute entlassen. Das wird schwierig.«
»Wieso schwierig? Ich gebe dir meine Nummer und E-Mail Adresse.«
»Okay, wenn Sie das wollen.«
»Wie bitte?«
»Wenn Sie drauf bestehen.«
»Natürlich besteh ich drauf, ich will doch wissen, wie es mit meiner Figur weitergeht. Und ob ich es bis zum Himmel loben soll oder eher Anzeige erstatten sollte.«
»Oh.«
»War nur ein Scherz.«
»Okay. Bei Ihnen weiß man ja nie.«
»Wie bitte?«
»Nichts! Nichts!«


»Also«, sagte er, stand auf und kam zu mir, um mich auf die Schulter zu klopfen. »Mein voller Respekt, von meiner Seite aus. Ich bin aus dem Häuschen!«
Er ging zurück in sein Bett, legte sich hin und deckte sich wieder zu. »So«, sagte er, »Mein Tagesdienst ist für heute gemacht, jetzt heißt es Feierabend.«
Mein Blick richtete sich auf mein Manuskript. Nach den großartigen Feedbacks, die ich bekam, musste doch was dran sein, dachte ich. Motiviert war ich auf jeden Fall. Ich schwor mir weiterzumachen mit dem Roman scheiben.
Wer weiß, vielleicht würde aus mir mal ein berühmter Autor.


18. Kapitel

Zwei Stunden später. Ich hatte den Auftrag, um 15 Uhr langsam mein Zimmer zu räumen, was hieß, dass ich etwas extrem Wichtiges davor erledigen konnte: Duschen! Ein Handtuch bekam ich von einer Pflegerin spendiert, nur frische Klamotten hatte ich keine. Und ich glaube, ich kann für die Mehrheit der Menschheit sprechen, wenn ich sage, dass nach dem Duschen in frische und obendrauf noch gebügelte Klamotten zu schlüpfen, der Inbegriff des Wohlfühlgefühls ist. Aber dies blieb mir leider verwehrt. Egal, Hauptsache war, dass ich die siebentägige Schweißgeruchsfahne endlich los war. Gott segne den Erfinder des Shampoos.
Im Zimmer angekommen, war Herr Wörther schon irgendwo anders unterwegs. Er wollte mir ja noch seine E-Mail Adresse und so geben und verabschieden wollte ich mich auch noch unbedingt von ihm.
Ich öffnete meinen Schrank und nahm mein Zeugs, was größtenteils aus Zeitschriften und Büchern bestand und natürlich meinem Manuskript und stopfte es in eine Alditüte.


Tja, dachte ich, bald bin ich hier weg. Am Abend wäre ich bei meiner Familie und würde Heiligabend feiern. Ich musste jetzt schon innerlich darauf vorbereitet sein. Nikos Rat, den ich auf jeden Fall befolgen wollte, also eine Rede zu halten, war nicht ganz so einfach für mich. Schon allein, weil ich es nie mochte im Rampenlicht zu stehen.


Aufschreiben wäre für mich natürlich die gängigste Option gewesen, aber mit einem Stück Papier in der Hand, vorm Esstisch irgendwas abzulesen, schien mir abwegig. Es musste aus dem Herzen kommen, aber wenn wir schon bei Herzen sind, es dürfte nicht zu pathetisch, albern oder peinlich rüberkommen. Puhhh, keine einfache Sache, wenn man genau überlegte.


Ich legte die Alditüte auf den Boden und setzte mich ein letztes Mal auf das Bett.
Diesmal brauchte ich drei Varianten, die mir ein Gefühl von Sicherheit gaben. So wie Comedians, die wussten, wann ein Gag aus ihrem Repertoire, in welcher Situation besonders gut passte. Also her mit den Ideen! Ich starrte auf die Decke und überlegte, was besonders gut ankommen könnte. Vor meinem inneren Auge waren meine Familie und ich gerade fertig mit dem großen Weihnachtsessen. Wie immer Schäufele mit Kartoffelsalat und scharfem Senf. Dann wische ich mit einer Serviette über mein Mund, nehme einen kleinen Löffel und klopfe damit auf mein Rotwein Glas. Alle Blicke richten sich auf mich. Um die Wichtigkeit zu bekräftigen, stehe ich auf.

1. Version: So, einen Augenblick bitte, ich möchte etwas sagen. Adej, ich bin nicht hier, um meine Weltreise finanziert zu bekommen, sondern um mit euch Weihnachten zu verbringen. Aber worauf ich hinaus will, ist nicht mit euch diesen Tag zu feiern, um dann ein Jahr Pause von euch zu haben. Nein, statt komprimiert einen Tag Familien Freude zu zelebrieren, sollten wir, dass doch das ganze Jahr gemeinsam machen. Also stoßt mit mir an, auf unsere Familie und auf Weihnachten!
Ach nö! Gefällt mir zwar in Ansätzen aber es geht doch sicher besser. Wie wäre es denn mit dieser Version?

2. Version: Mama, ich weiß du liebst Weihnachten, aber ich weiß nicht ob die Zeit und Energie die du darauf verwendest uns, als Familie wirklich näherbringt. Vielleicht ist es mit dir und Weihnachten genauso wie bei mir mit den Meinungen der anderen: Wir beide wollen damit etwas gutes tun, fokussieren uns aber auf etwas, was in die falsche Richtung geht. Ich sollte mich nicht so abhängig von anderen Menschen machen und du solltest vielleicht von deinen beiden Kindern mehr verlangen, dass sie dich unter dem Jahr mehr besuchen. Denn was wären wir schon ohne dich? Lass mich raten: Zum Beispiel nicht auf diese Welt, um Weihnachten hier und heute mit dir zu feiern. Also erhebt mit mir das Glas. Auf unsere Mutter bzw. Großmutter! Prosit!
Hier bin ich etwas konkreter, was schon mal besser ist, aber was ich in beiden Reden vergessen oder vielleicht verdrängt habe, war mein Bruder Johnny. Es wäre doch schändlich, ihn gar nicht zu erwähnen, obwohl er mein Hauptgrund war, ein halbes Jahrzehnt nicht an Weihnachten zu erscheinen. Also, hier eine Annäherung:

3. Version: Johnny, ich will dass wir unser Streit beilegen und mehr unternehmen. Das Leben ist kurz. Stell dir vor einer von uns läge im Sterbebett und einer würde fragen, wie viel Zeit man mit seinem Bruder verbracht hatte, dann käme es doch einem seltsam vor, wenn man nur Weihnachten als Antwort angeben würde. Deshalb Schluss mit dem Unsinn, lass uns umarmen und Anstoßen!
Das klang nun tatsächlich ein klein wenig pathetisch. Aber wie wäre es denn, die drei Versionen zu verbinden? Und zwar nur die besten Stellen der jeweils anderen. Das wär’s doch!

Nach einmaligem Klopfen trat die gleiche Pflegerin, die mit Herrn Wörther den kleinen Disput gehabt hatte, ins Zimmer herein. Sie hatte ihre Hände hinter dem Rücken, und obwohl sie dort etwas zu verstecken versuchte, konnte ich dennoch einen Blick auf den Schokoweihnachtsmann erhaschen. Ich lächelte ein wenig, wollte ihr aber auch nicht die Überraschung kaputt machen, deswegen ließ ich mir nichts anmerken.
»Hallo Herr Bereket. Wie ich gehört habe, ist heute ihr letzter Tag. Ich wollte Ihnen noch schöne Weihnachten wünschen und einen guten Rutsch ins neue Jahr.«
»Dankeschön.«


»Und, als kleine Aufmerksamkeit, schenke ich Ihnen noch was.«
»Ja? Was denn?« Sagte ich pseudoahnungslos.
Dann holte Sie ihn hervor: eine Mini-Me Version von einem Weihnachtsmann.
»Danke«, sagte ich.


Wie auf Kommando stürmte Sebastian ins Zimmer rein, auf seinen Händen ein Tablett, worauf ein Teller stand und ringsherum die eingepackten Tabletten, die ich die nächsten vier Tage nehmen musste. Er legte es auf den Tisch und sagte: »Signore Bereket, darf ich Ihnen die Spezialitäten des Hauses präsentieren?«, sprach er in italienischem Akzent.
»Öh, äh, ja klar.«
»Gut. Wir fangen an mit Primo, die da bestehen aus ihren Antibiotika, die sie morgens und abends zu sich nehmen müssen. Dann kommt das Secondo, dass aus diesem Potpourri besteht«, er nahm den Deckel vom Teller, worunter sich drei Schokoweihnachtsmänner, zwei Gummibärenpackungen und viele Haselnüsse drumherum befanden. »Ich glaube, wir ersparen uns das Terzo«, sagte er in Klarem deutsch, »da wir 1. nicht in Italien sind und 2. wollen wir nicht, dass Sie der zweite Rainer Calmund werden, stimmts?«
»Wow«, kam aus mir heraus, »Das ist mehr als nur eine Aufmerksamkeit.«
»Warum«, fragte Sebastians-Kollegin.
»Ich glaube, dahinter steckt, mich krank durch kalorienreiche Nahrung zu machen, damit ich wieder ins Krankenhaus muss wegen Adipositas.«


»Naja«, sagte Sebastian, »Bis du mal fett an den Rippen angebaut hast, ist es noch ein weiter weg. Außerdem glaub ich nicht, dass man wegen Übergewicht in die HNO kommt.«
»Na, Gott sei Dank! Von dieser Klinik hab ich auch echt genug.«
Wir lachten gemeinsam.
»Danke an euch beiden.«
»Es war Sebastians Idee«, sagte seine Kollegin.
Ich schaute zu ihm, worauf er seine Schultern zuckte, was so viel hieß wie, war doch nichts.
»Vielen Dank, Sebastian.«
»No Problemo. Aber ich glaube der Mini-Weihnachtsmann sollte dein Stinkstiefel von Zimmernachbar bekommen.«
»Hey«, sagte ich lachend, »der ist gar nicht mal so schlimm.«
Beide schauten mich erstaunt an.
Als hätte es ihm ein Vöglein gezwitschert, kam dann Herr Wörther herein. Er stand da und musterte die beiden anderen.


»Was ist hier los«, er klang so, als wäre er der Hausherr in einer prächtig großen Villa.
Ich nahm den Mini-Me aus der Hand der Pflegerin, ging zu Herrn Wörther und überreichte ihm die eingepackte Süßigkeit.
»Das ist los.«
»Oh, womit habe ich das verdient?«
»Erstens, wir haben Weihnachten und zweitens, hören Sie dann endlich auf, ein mürrischer choleriker zu sein«, diese Aussage war gewagt, dementsprechend warfen mir die anderen Blicke zu, die so viel hießen wie, Woh mutig, aber in deiner Haut wollen wir grad nicht stecken. Ich schaute auf den regungslosen Blick von Herrn Wörther und dachte kurz das Gleiche.
Doch er fing an zu lachen, so laut und so ausgelassen, fast schon so wie Christoph Walz in Inglourious Basterds in der Kino-Foyer-Szene, wo er über Diane Krugers gebrochenem Bein lacht.
»Weiß du was?«, fragte er.
»Was?«, fragte ich.
»So ehrlich ist nur meine Frau zu mir.«
»Ach ja?«
»Ja! Von mir aus sind die einzigen Menschen die so mit mir reden dürfen, meine Frau und du.«


Sebastian und seine Kollegin schauten mich anerkennend an und dachten wahrscheinlich, wie ich das bloß angestellt hatte. Tja, mit Grips und Witz ist man beim alten Mann schnell der Prinz.
»So genug der Harmonie«, sagte Sebastian, »Wir beide gehen mal wieder an die Arbeit. Und Herr Wörther bitte nicht so viel Süßigkeiten essen, denken Sie an Ihr Diabetes.«
»Ja, ist ja gut!«, sagte er diesmal genervt.
Als die beiden das Zimmer verließen, kramte Herr Wörther in seiner Hosenrücktasche nach etwas.
»Da die beiden Plagen nun endlich weg sind, kann ich dir endlich das geben...«
Es war ein Stück Papier in Form einer Visitenkarte. Er gab es mir, worauf nur Gekrakel zu lesen war.
»Was ist denn das?«, fragte ich, »Etwa Sütterlinschrift?«
»Nein«, lachte er, »die Schrift eines alten Mannes.«
»Also, ich schlage vor, Sie diktieren mir einfach Ihre E-Mail Adresse und Handy Nummer und ich schreibe es noch mal auf.«
»Gut. Machen wir das.«
Als ich es fertig geschrieben hatte, legte ich den Zettel in meiner Smartphonehülle, damit ich es nicht vergessen oder verlieren würde. Dann wandte ich mich wieder ihm zu.


»Na gut, Herr Wörther«, sagte ich extra laut, um mich nicht wiederholen zu müssen, »es ist jetzt Zeit, adieu zu sagen. Wie sollen wir das machen? Wie zu Ihren Glanzzeiten im Militär salutieren, oder doch umarmen?«
»Wie wäre es mit einem herzlichen Händedruck, wie man es unter Gentlemen so macht?«
»Einverstanden!«
Wir gaben uns die Hand, wobei sein Händedruck nicht von schlechten Eltern war, aber ich hatte ja schließlich mit der Pflegerin im Operationssaal fleißig geübt. Herr Wörther zeigte mir mit seiner anderen Hand den Zeigefinger und sagte lächelnd: »Lass dich hier bloß nie wieder blicken!«
»Darauf können Sie sich verlassen.«
»Gut.«

Als ich meine Alditüte nahm und die Tür meines Zimmers von außen schloss, stand ich vor dem langen Gang. Es war das letzte Mal, dass ich den entlang laufen musste. Ich konnte es selbst nicht glauben, während ich an den Türen vorbeilief, wo sich die anderen Patienten befanden, aber irgendwie hatte ich eine kleine Wehmut in mir, hatte ich doch wirklich unglaubliche Begegnungen in den letzten sieben Tagen. Und während ich durch den Gang lief, kamen mir die Gesichter wieder vor meinem geistigen Auge: Herr Unbekannt, Yilmaz, Natascha, Herr Wörther, Niko, die Pflegerin dessen Hand ich hoffentlich nicht zertrümmert hatte beim fest zudrücken und die ganzen Ärzte, mit denen ich zu tun gehabt hatte.


Ich war zwar froh, endlich aus der Klinik entlassen zu werden, aber ich hatte auch ein klein wenig Schiss, und zwar vor dem, was mich wohl erwarten würde, wenn ich vor meiner Familie stand.
Der Aufzug ging auf, ich ging rein und die Tür schloss sich, ich dachte dabei, jetzt gebe es keinen der mir mit Ratschlägen zur Seite stehen würde, kein Yilmaz, kein Niko.


Jedenfalls stand eins fest: Ich musste mich umziehen, bevor ich zu meiner Familie ging. Deswegen fuhr ich mit der S-Bahn schnell in meine mickrige kleine Einzimmerwohnung. Ich wollte nicht zu spät da erscheinen, da um 17:00 Uhr alle schon bei meiner Mutter wären, und das wäre mit den Kindern und ein paar weitere Verwandte schon zwölf Leute. Also hieß es sich, zu beeilen, denn um diese Zeit würden meine Familie sich schon auf das Weihnachtsessen stürzen, und was wäre seltsamer und unangenehmer als direkt dann zu erscheinen, wenn es Essen gab?!


Es war genau 15:15 Uhr, als ich bei mir ankam. Ich wollte nochmal duschen, weil die stinkigen Klamotten an meinem Körper festklebten und ich wie aus dem letzten Loch roch. Nach dem Duschen war es 15:45 Uhr. Ich musste nun meine Klamotten aussuchen. Wie wäre es mit einem Hemd mit Ärmel und obendrüber eine schöne braune Lederjacke? Von mir aus. Oder doch ein dicker Pullover, statt des Hemds? Nein! Hemd ist gut! Meine Hose war schlicht und ergreifend eine Jeans. Und wie man weiß, ist eine Jeans meist blau, aber ich, der nur solche Hosen besaß, hatte welche in verschiedenen Schattierungen. Kurz hielt ich inne und überlegte welche denn besser wäre für den Anlass. Dunkelblau oder doch hellblau? Nach einer Weile schaute ich auf meine Uhr an der Wand: 16:24 Uhr.
»Ach du Scheiße!«, rief ich.
So viel Zeit ging flöten, nur wegen der Entscheidung, welche Hose ich anziehen sollte. Schließlich pfiff ich auf die Farbe und zog irgendeine hellblaue an, betrachtete mich kurz im Schrankspiegel, nahm mein Hausschlüssel, schloss ab und flitzte wie ein Frettchen heraus, um die nächste S-Bahn zu erreichen. Es war jetzt 16:35 Uhr und ich hatte genau zwanzig Minuten, bevor es eng in der Wohnung wurde.


An der Haltestelle ausgestiegen, musste ich noch zwei Blocks laufen, also rannte ich los. Ich kam mir vor, wie Lola rennt, die im Film ja 100.000 Mark auf die Schnelle besorgen musste. Ich dagegen durfte nicht so spät an Heiligabend kommen, damit meine Familie mich nicht ächtete.
Jedenfalls kam ich um 17:06 Uhr im Wohnhaus an, klingelte unten an der Eingangstür, aber ohne das die Stimme meiner Mutter in der Freisprechanlage zuhören war, piepste schon die Tür und ich trat ein. Das Haus, indem meine Mutter wohnte, hatte keinen Aufzug, also musste ich fünf Stockwerke hochlaufen. Was mich wieder zum Schwitzen brachte. Und ich dachte, ich wäre gut in Form.


Als ich oben ankam, war die Tür noch verschlossen. Dessen Beschaffenheit bestand aus einem dicken Holzrahmen und der Rest aus Isolierglas. Man konnte zwar reingucken, aber außer verschwommenem Wirrwarr konnte man nicht viel mehr sehen. Ich stützte mich an der Wand ab und schüttelte meine Erschöpfung ab. Es dauerte immer noch, bis jemand kam. Ich hörte deutlich, wie Laute Weihnachtsmusik und Stimmengewirr bis zu mir durchdrang. Shit! Ich war zu spät! Endlich sah ich eine Silhouette auf die Tür zukommen. Ich machte meine Jacke zurecht und war bereit. Dann ging die Tür auf.

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