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Betreutes Schauen - über Reaction-Videos 2/2

Vielleicht haben sich manche Leser vom 1. Teil, die in der Reaction-Video-Materie nicht so drin sind, gefragt: „Kann es überhaupt noch schlimmer werden?“ Die Antwort fällt nach dem ganzen Wahnsinn, was letztens vorgestellt wurde, nicht wirklich glaubwürdig aus, aber es ist die Wahrheit: Es wird eine Nummer schlimmer werden. Also dann, Fest anschnallen und los geht’s!

von Daniel Zemicael 


"Das Grauen! Das Grauen!"

 

Wer hat das nicht sehr gerne? Man setzt sich mit seinen Freunden ins Wohnzimmer, um einen Film anzuschauen. Doch nach wenigen Minuten merkt man, dass die Freunde unglaublich nerven. Ständig kommentieren sie etwas. Der eine macht sich über die angeblichen Film - und Logikfehler lustig, der andere glänzt mit einer einzigartigen Blödheit (z.B. nach einer Szene, in dem ein Filmcharakter umgebracht wird, fragt der Freund: „Ist der wirklich tot?“).

Man kennt sie: die nervigen Kommentatoren. Es gibt tatsächlich Leute, die sich berufen fühlen einen Film wie in einem Fußballspiel mit ihren Sprüchen und Monologen durchgehend zu begleiten, in der irrigen Annahme, es könnte irgendjemand interessieren. Das ganze kommt mir vor, wie eine billige Wiederbelebung der Audiokommentare, die es damals in den DVD-Extras gab.

TBR Schmitt ist ein Reaction-Kanal von einem Paar, das sich Filme aus den verschiedensten Genres anschaut. Dabei sehen sie sich Filmklassiker wie "Rosemary's Baby" oder Kultfilme wie die "Lethal-Weapon-Reihe" an und geben ihre unqualifizierten Meinungen den gesamten Film über ab. Wir sehen dabei den Streifen auf den Reactet wird und das Paar, das manchmal im Vollbild und manchmal klein in der Ecke des Bildes zu sehen ist.
Den Film selbst erlebt man dabei als Zuschauer (wie bei allen anderen Filmreaction-Streamern) nicht in seiner gesamten Länge, sondern bekommt Auszüge präsentiert. Ein Best-of mit zusätzlichem Gequassel aus der Reaction-Bubble. Bei TBR Schmitt regnet es dann Kommentare zu allen Szenen. In "The Hateful Eight" von Quentin Tarantino fiebern die beiden mit und rufen den Protagonisten hinterher, den oder diejenige zu erschießen. Bei "Casino" von Martin Scorsese haben sie wenig Mitleid mit Nicky Santoro gespielt von Joe Pesci, als dieser wie ein Tier abgeschlachtet wird.


Und bevor sie schließlich ihren ersten Roman-Polanski-Film starten ("Rosemary’s Baby"), muss natürlich erstmal klargestellt werden, dass Polanski kein guter Mensch sei. Amerikanische Moral ist davon gekennzeichnet, in gut und böse einzuteilen, das ist nun einmal ihre Spezialität. Das betrifft nicht nur Filmcharaktere, sondern auch reale Personen. Doch wenn wir beim Film bleiben, sehen wir, das die Amerikaner scheinbar gar nicht anders können, als ihre Urteile abzugeben, da fällt so ein Spruch wie ein, „Kill her“, oder „Shoot him“ gar nicht so ins Gewicht, weil es Normalität geworden zu sein scheint.

 Dieses Be- und Verurteilen ist beim TBR-Schmitt-Kanal gang und gäbe. Außerdem geben sie dem Publikum nichts Tiefgreifendes oder irgendeinen originellen Gedanken mit, mit dem man etwas anfangen könnte. Klar, direkt nach dem Anschauen eines Films sofort eine Meinung parat zu haben und das ohne sich vorher darüber Gedanken zu machen, ist eine Herausforderung. Es sei denn man kann schnell und ohne große Vorbereitung seine Gedanken pointiert und eloquent auf den Punkt bringen. Dieses Talent spreche ich, nach sehr vielen Reaction-Video-Sichtungen, den Reactern mal konsequent ab. Und das ist u.a. auch ein Grundproblem der Reaction-Videos: Die nicht vorher geleistete Vorbereitung! Was natürlich dem Konzept widersprechen würde, es ist eben keine Review, sondern eine auf Spontanität setzende Aktion.

James vs. Cinema müsste es besser wissen, könnte man denken. Der junge James Adams ist nämlich ein Filmemacher aus Amerika, der offenbar am Anfang seiner Karriere steht und auf Youtube dafür bekannt ist, Filme zu reacten. Da lässt schon mal hoffen: Da ist einer vom Fach! Der kann mehr als die anderen Trittbrettfahrer, die nur seltsame Kommentare abgeben. Zumal auch in seiner Kanalinfo steht, dass er sein Publikum über Filme unterrichten möchte.

Pustekuchen! Das geschieht nämlich in keiner Sekunde. Adams ist genauso wie die anderen. Wenn man ihm aufmerksam folgt, fällt gleich auf, dass er auf Kameraperspektiven achtet, aber anstatt sie zu analysieren, macht er ausschließlich Bemerkungen, dass sie „Cool“ seien. Viele Filme versteht er gar nicht und für sein Abschlussresümee bleiben immer nur wenige Minuten, worüber er über das gerade Gezeigte nicht viel Aufschlussreiches zu sagen hat.

Folgendes Szenario ist sicherlich nicht aus der Luft gegriffen: Der gemeine Zuschauer von James vs. Cinema, schaut sich einen Film an, kann es danach kaum erwarten, seinen Lieblingsyoutuber anzuklicken, um sich dessen Meinung anzugucken. Er hört bedächtig 30 Minuten lang zu, was James zu sagen hat, bis das Video zu Ende ist und gibt ihm schließlich ein Like, abonniert ihn (falls er es nicht schon längst getan hat) und spendet ihm sogar auf Patreon eine Spende. Man könnte, das ganze auch betreutes Schauen nennen. Es ist ein sich abhängig machen von Meinungen anderer. Solche Arten der Unterhaltung machen also nicht nur das filmische oder musikalische Kunstwerk kaputt, es hindert auch das jüngere Publikum am eigenständigen Denken. Für diesen Schlamassel werden Reacter aber auch noch (finanziell und durch Klickzahlen) belohnt. Der Widerspruch ist ganz einfach aufzulösen: Die Reacter geben sich sympathisch und schaffen eine emotionale Bindung zu ihrer Community. Sie wirken wie Freunde. Und Freunde enttäuscht man nicht gerne.

Das ist der springende Punkt, wenn man über den Erfolg der Reaction-Videos nachgrübelt. Die Kanäle werden von Leuten betrieben, die wie du und ich sind. Sie haben nicht die Expertise oder irgendeine andere, besondere Qualifikation über Filme zu reden und erinnern uns dabei an uns selbst, wenn wir etwas nicht verstanden haben, wenn wir etwas lächerlich gefunden haben, oder wo wir geweint haben. Im Grunde bestätigen sie unsere eigene Meinung. Das ist wahrscheinlich ein weiteres Indiz für den Erfolg solcher Videos. Vor einigen Jahren hörte man noch gerne Menschen zu, die eine Instanz, gebildet und auch fern aus unserem alltäglichen Leben waren. Politiker, Künstler oder Wissenschaftler, kurz gesagt, Experten die in ihrem Gebiet weit gekommen sind und viel zu sagen haben. Dieser Respekt und auch die damit verbundene Glaubwürdigkeit ist mittlerweile stark gesunken. Wer ist heute am Drücker? Wen hört man am meisten zu? Nun es sind die, die ein Youtube-Zimmer besitzen. Es sind die, die dank diversen Werbedeals in ihren Räumlichkeiten sitzen, ausgestattet mit LED-Lampen, Gaming PCs und Mikrofonen. Angefangen haben sie als Nobodys und hochgekommen sind sie mit dummen Gequatsche.


So wie Influencer mit Werbung Millionen verdienen, werden Reacter reich, indem sie einfach nur dasitzen und etwas anschauen. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: reichwerden durchs pure Glotzen und ein paar Sprüche loslassen. 


Die mitgebrachten nervigen Freunde aus dem obigen Beispiel, die dasitzen und den Film kommentieren, haben offensichtlich das Rennen gemacht. In den 90ern und den Nullerjahre war es wahrscheinlich jedem bewusst, dass C-Promis wie Veronica Feldbusch oder Daniela Katzenberger eine Art Modeerscheinung im Fernsehen waren, die so schnell wie sie auftauchten, auch wieder verschwinden würden. Heute im Social-Media-Zeitalter wimmelt es nur noch von solchen C-Promis. Einige von ihnen sind dafür bekannt Reactions in diversen Plattformen hochzuladen. Das Anspruchsvolle oder irgendetwas, was einem das Denken abverlangt, ist fast schon Tabu oder zumindest nicht gern gesehen im Netz.

Wenn das so weiter geht, landen wir irgendwann in "Idiocracy". In Mike Judge Filmkomödie wird ein Gesellschaftsbild einer fernen Zukunft gezeigt, das von Idioten und Dummköpfen bevölkert ist, die im Fernsehen Furzvideos anschauen und von einem Präsidenten regiert werden, der ehemals Pornostar war. So fern ist diese Zukunft vielleicht doch nicht.

Tja, wohin wird es mit uns hingehen? Verbringen wir weiterhin viel Zeit im Internet und lassen uns vom Autoplay auf Youtube einfach so treiben, werden wir wahrscheinlich auch irgendwann die immer gleichen Worte murmeln, wie sie Colonel Kurtz in Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" tat: „Das Grauen! Das Grauen!“ Und genau wie Colonel Kurtz im Film werden auch wir merken, dass es schon längst zu spät ist.


Selbst Schuld


Jetzt könnte man hergehen und sagen, dass die Konsumenten dieser abstrusen Unterhaltungsform die eigentlichen Schuldigen sind, die sich diesen Content überhaupt anschauen und dafür sorgen das die Nichtskönner von Reactern erfolgreich und reich werden. Absolut richtig! Angebot und Nachfrage eben. Rekapitulieren wir den Anfang des Artikels und schauen noch einmal zu Cartierfamily. Da haben wir gesehen, wie dämlich diese Unterhaltungsform der Reaction sein kann. Es ist aber nicht die größte Pointe, die ich zu bieten habe, die hab ich mir nämlich für den Schluss aufgespart. Denn jetzt ist es Zeit für ein Geständnis, dass ich sehr ungern preisgebe. Doch die Zeit ist reif. Es muss einfach sein.


Ich bin nämlich einer von diesen Pappnasen, die sich sowas anschauen! Nein, nicht aus Recherche-Gründen, sondern einfach so. Und statt mich freiwillig ins Verlies der Peinlichkeiten einzusperren, muss noch einiges klargestellt werden: Es ist auch gar nicht so, dass ich mir diese Videos aus purem Vergnügen anschaue. Es ist eher wie eine Sucht. Ich bin quasi “im Netz der Spinne gefangen” (Um mal Menschenfeind von Gasper Noe zu paraphrasieren) und genau das ist das nervige daran: Ich will keine Reaction-Videos anschauen, mache es aber trotzdem.


Waren es damals Soaps, die mich um den Finger wickelten, sind es heute bescheuerte Internetphänomene. Ja, ich gehöre zu diesen Blödisten (wie es Arthur Schnitzler in der Kurzgeschichte von Leutnant Gustl treffend formuliert), die sich stundenlang mit diesem Scheiß abschießen und die Zeit und alles um sich herum vergessen. Ich zähle zu diesen armseligen Leuten, die ihre Abende, ihre Tage und ihr Leben mit Reactions vollpflastern, um nur nicht zuzugeben, dass sie so langsam aber sicher die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Überspitzt ausgedrückt, ja, aber dennoch ist das ein kleiner Hilferuf, der sagen soll: Hey Leute, ich bin verdammt noch mal süchtig nach dem Scheiß. Tja, jetzt ist es raus. Endlich.

Und gerade in diesem Moment, während ich diesen Artikel zu Ende schreibe, erscheint im Second Screen ein Reaction-Video von We Are the World von USA for Africa. Dass man den Song nicht kennt, wundert mich dann doch. Ehrlich gesagt, habe ich fünf Reaction-Videos in Folge gesehen. Nur noch den, dann höre ich auf mit dem Mist. Für immer und ewig. Versprochen!


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